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Rudolf Hickel im Interview 40 Jahre nach Aus der AG Weser: "War in dieser Phase nicht zu retten"

140 Jahre war die AG Weser ein wichtiger Wirtschaftsmotor für Bremen. 1983 musste die Werft schließen. Ökonom Rudolf Hickel erklärt, warum es eine wirtschaftliche und politische Entscheidung zugleich war.
23.09.2023, 04:30 Uhr
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40 Jahre nach Aus der AG Weser:
Von Hannah Krug

Herr Hickel, wenn Sie heute an die AG Weser denken, woran denken Sie dann?

Ich denke an den blauen Bockkran mit dem Emblem "AG Weser". Der ist für mich das Symbol für die Erfolgsgeschichte. Er steht aber auch für den Niedergang. Der Bock­kran ist per Schiff beim damaligen Konkurrenten in China gelandet. Das ist eine traurige, aber durch bremische Wirtschaftspolitik bewältigte Tragödie.

Die Belegschaft der AG Weser war stolz auf ihre Produkte und hatten einen starken Betriebsrat. Die Arbeiter erlebten den Niedergang der Werft als Verrat. Wie kam es dazu?

Die weltweite Expansion der Rohölnachfrage führte zum Öltanker-Boom. Die AG Weser hatte sich klugerweise mit dem Sonderprogramm 1963 früh auf den Bau der Mega-Öltanker konzentriert. Sie war eine Zeit lang absoluter Wettbewerbsführer in der Produktion. Dann kamen zwei Boombremser dazwischen. Sie waren absehbar, aber im Betriebsrat und in der senatorischen Politik nicht diskutierbar. Erstens war der Rückgang der riesen Massentanker nicht mehr zu leug­nen. Und zweitens gab es eine wachsende Konkurrenz in Südostasien, vor allem damals aus Südkorea und Japan. Dort waren die Löhne viel niedriger und es gab massive Subventionierungen. Die Verdrängung durch Wettbewerb über Preise und Lohndifferenzen war damals sehr einfach – man konnte im Grunde an jedem Ort der Welt einen Tanker bauen.

Ab wann war denn der Strukturwandel absehbar?

Das Ende des Tankerbooms war spätestens ab 1973 unübersehbar. Der Betriebsrat hätte das sehen und Antworten suchen müssen. Die Geschäftsführung hat zuvor schon Aufträge zurückgeben müssen, da es immer wieder Stornierungen gab. Damals war eine Diskussion über alternative Produktion unmöglich. Der Glaube an die immerwährende Prosperität saß zu tief. Dass der damalige Bürgermeister Hans Koschnick die AG Weser nicht mehr retten konnte, betrachtete er als persönliche Tragödie. Die Eigentümer der AG Weser und der Vulkan-Werft hatten insgesamt 300 Millionen Mark Schulden.

Warum gab es frühzeitigen Warnungen, zum Beispiel aus der Wissenschaft oder der Politik?

Da muss man zwischen innen und außen unterscheiden. Innerhalb des Landes Bremen gab es für einen Umbau praktisch keine Vorstellungen. Erst 1980 legte die Geschäfts­leitung einen Plan zur Fusion etwa mit dem Bremer Vulkan zur Großwerft vor. Der Bremer Senat und die Bürgerschaft haben sich damit beschäftigt. Am Ende war alles zu spät. Das lag auch daran, dass der Betriebsrat unter dem Vorsitz von Hans Ziegenfuß die Diskus­sion über Alternativen wie der Teufel das Weihwasser gefürchtet hat. Wir aus der Wissenschaft mussten immer vorsichtig sein, was wir sagen, weil man aus dem Beratungsprozess schnell rausfliegen konnte.

Und außerhalb?

Von außerhalb wurde der nahende Tod von der Bundesregierung befördert, die jegliche Hilfe abgelehnt hatIch erinnere mich, dass der damalige Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff sich vor die Beschäftigten der AG Weser gestellt und gesagt hat: Es gibt kein Geld aus Bonn! Er war der Meinung, was am Markt nicht besteht, muss weg.

Inwieweit sind autoritäre Führungspersonen in Betriebsräten ein Abbild der damaligen Gesellschaft?

Es ging sehr patriarchalisch zu. Eine reine Männerwirtschaft sozusagen. Frauen habe ich in Führungspositionen nicht erlebt. Und es dominierte auch eine wirksame Reduktion der Machtverhältnisse: "Unser Hans Ziegenfuß macht das! Und wenn unser Hans angegriffen wird, dann verteidigen wir den." Die meisten der Beschäftigten waren SPD-Mitglieder und haben versucht, auf die Partei Einfluss zu nehmen. Da­mals haben auf den Bezirkskonferenzen der IG Metall die „Fürsten der Großbetriebe“ domi­niert. Diese Zeiten sind längst vorbei. Heute dominiert die Kooperation zwischen den Betrieben.

Am 23. September 1983, als die Schließung der AG Weser kurz bevor stand, gab es noch eine letzte Betriebsratssitzung, an der Sie selbst auch teilgenommen haben. Wie haben Sie die erlebt?

Ich war tief erschüttert. Es war eine Veranstaltung der totalen Verzweiflung auf allen Seiten. Die Kollegen haben große Erwartungen gehabt: Können wir die Werft noch retten oder nicht? Koschnick saß da und wusste genau, er muss sagen: nein, es ist Schluss. Der drohende Arbeitsplatzverlust war präsent. Und dann habe ich noch eine Erkenntnis gewonnen.

Welche?

Ich bin mit dem damaligen SPD-Landesvorsitzenden Hans Dieter Müller, der ein hoch reflektierter Politiker war, vom Werksgelände runter und zu irgendeiner Stelle des Hafens gefahren. Dort haben wir versucht, das Geschehen zu verarbeiten. Und da stand eine Erkenntnis, die mich tief traurig gemacht hat. Um es mit den alten Begriffen auszudrücken: Es ging um die Verdrehung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit.

Das müssen Sie erklären.

In dem Moment, in dem klar war, dass das Kapital nicht mehr will, also die Krupp-Bosse wegen der Verluste nicht mehr wollten, wird die Schuld am Absturz der Politik gegeben. Das haben wir oft in der Geschichte der Arbeiterbewegung: In der Verzweiflung wird der Falsche zum Schuldigen erklärt. Und am nächsten war die Tür zum Rathaus. Das war damals ein Scheitern der ganzen Aufklärungs- und Bildungsarbeit auch innerhalb der Gewerkschaften. Niemand verstand, dass die Politik auf die Rolle des Vollstreckers reduziert worden ist. Zugespitzt wurde Koschnick der Absturz in die Schuhe geschoben. Diese Verkehrung der echten Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit – das hat mich am meisten erschüttert.

Aber woher rührte dieses Abrücken vom eigentlichen Schuldigen?

Diese Frage bewegt mich heute noch. Es war wohl die Verzweiflung, den Arbeitsplatz zu verlieren. Und die Tradition des jahrelangen Erfolges verstellte den Blick auf verän­derte Realitäten. So eine Werft arbeitet ja auch wie eine Manufaktur mit großartigen, zurecht stolzen Fachkräften. Und nicht zuletzt war es eine komplette Überschätzung staatlicher Hand­lungsfähigkeit. Am Rande wurde durchaus auch die Verstaatlichung der AG Weser diskutiert.

Sie haben den Betriebsrat beraten. War das auch Ihre Empfehlung?

Ich gehöre leider auch zu denen, die zu spät aktiv geworden sind. Ich habe den Absturz früher geahnt, aber in der Politik zu wenig artikuliert. Wir haben für den Betriebsrat versucht, die senatorische Seite zu überzeugen, dass sich die Rettung der Werft lohnt. Wir haben dann auch in internen Gesprächen radikalere Modelle wie Verstaatlichung oder Vergesellschaftung besprochen.

Warum wurde keine Alternativproduktion diskutiert?

Erst bei der Betriebsbesetzung am 19. September 1983 wurde die Diskussion der Erzeugung alternativer Produkte aufgenommen. Ein ziemlich naives Beispiel waren Anla­gen zum Fang und der Zucht von Fischen. Eine Debatte über Alternativproduktionen, wie sie es bei der IG Metall vor allem zur Rüstungsindustrie gab, hat auf den Werften nicht stattge­funden.

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Warum war der Blick der Gewerkschaft so einseitig?

Bei Gewerkschaften spielt die Identifikation mit dem Produkt eine große Rolle. "Wir haben die größten Schiffe der Welt produziert!" Das hat natürlich alles zu einem gewissen Selbstbewusstsein beigetragen, das auch in die Gewerkschaften transportiert wurde.

Ehemalige Werftarbeiter reagieren heute noch wütend, wenn gesagt wird, dass die AG Weser Konkurs gegangen ist. Wie sehen Sie das?

Ich habe damals sehr stark auf Alternativen gesetzt. Später war mir jedoch völlig klar: Es war ein dauerhaftes Problem von weltweiten Überkapazitäten. AG Weser war in dieser Phase nicht zu retten. Wäre es uns gelungen, in Konkurrenz zum Bremer Vulkan den Containerschiffbau zu übernehmen, wären wir zehn Jahre später auch pleite gewesen. Wir sind in Deutschland mit Containerschiffen absolut nicht konkurrenzfähig. Deutschland hat den Werftbetrieb heute auf den Bau von Spezialschiffen wie Kreuzfahrtschiffe, Luxusjachten und Militärschiffe konzentriert.

Nach der Schließung der AG Weser hatten zwei Drittel der Belegschaft nach einem Jahr wieder eine Arbeit. Wie kam es dazu?

Das war der Glücksfall Mercedes in Bremen. Das Unternehmen hat viele Beschäftigte übernommen. Das war übrigens ein Verdienst von Hans Koschnick. Der hat sich damals dafür eingesetzt, dass Mercedes-Benz nach Bremen kam. Aber auch die Universität hat Beschäftigte übernommen. Die Uni befand sich damals im Umbau und brauchte Maler, Schlosser und die ganze Betriebstechnik. 113 Arbeiter sind in ihre Geburtsländer zurückgeführt worden. Das ist subventioniert worden.

Wie hat sich die Schließung der AG Weser auf die Staatsfinanzen ausgewirkt?

Direkt sind aus der Staatskasse für die AG Weser keine Subventionen geflossen. Finanziert werden musste allerdings die Sanierung der ökologisch schwer belasteten Industriebrache, die die AG Weser hinterlassen hat. Durch das Ende der Wertschöpfung der AG Weser sanken die Unternehmenssteuereinnahmen. Da viele Beschäftigte eine neue Beschäftigung gefunden ha­ben, kam es auch nicht zu Ausfällen bei der Lohnsteuer. Auch sind die Sozialkassen nicht stark belastet worden.

Was hat Bremen aus dem Trauma der AG Weser wirtschaftlich gelernt?

Die Wissenschaft hat seit der Krise der AG Weser für Bremen ein neues Arbeits­feld erschlossen. Es geht um eine Wirtschaftsstruktur ohne Abhängigkeit von einigen wenigen Unternehmen. Das Stichwort heißt Diversifikation. Heute zeigen sich Erfolge der Bremer Politik im Dienste dieses Strukturwandels. Dabei ist es gelungen, einen hochmodernen industriellen Sektor mit starken mittelständischen Unterneh­men aufzubauen.

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Zur Person

Rudolf Hickel (81) war Professor für Finanzwissenschaft und Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft (IAW) der Universität Bremen. Er schrieb zahlreiche Bücher, zuletzt "Gewinn ist nicht genug! 21 Mythen über die Wirtschaft, die uns teuer zu stehen kommen". Für die Arbeitnehmerseite sitzt er unter anderem in den Aufsichtsräten Salzgitter Stahl und Technologie AG und der Gewoba.

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