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AG Weser Asbest, Unfälle und Alkohol: Die Schattenseiten der Werftarbeit

Die Arbeit auf der AG Weser wird bis heute als ein wichtiges Stück Bremer Identität erzählt. Gleichzeitig hat sie viel Leid über die Arbeiter gebracht. Ein Blick auf die Schattenseiten der Werftarbeit.
23.09.2023, 04:35 Uhr
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Asbest, Unfälle und Alkohol: Die Schattenseiten der Werftarbeit
Von Hannah Krug

"Herbert, mach' die Werft wieder auf, für eine Mark Stundenlohn fangen wir sofort wieder an!" Diesen Satz rief ein ehemaliger Werftarbeiter Herbert Kienke entgegen, als er, das ehemalige Betriebsratsmitglied, seine Ex-Kollegen bei ihrer neuen Arbeitsstelle Daimler besuchte. "Die würden sofort wieder anfangen", sagt Kienke heute. Die Arbeit auf der AG Weser erfüllt viele frühere Beschäftigte nach wie vor mit Stolz. 

Die Arbeiter der AG Weser bauten damals die größten Schiffe der Welt. Dafür gingen sie jeden Tag an ihre körperlichen Grenzen. Dieser "Produktionsstolz", die starke Identifikation mit der Arbeit, der Zusammenhalt – beinahe romantische Erinnerungen vieler früherer Werftarbeiter. Doch die Arbeit hatte auch Schattenseiten, die in der Bremer Erinnerungskultur zwar erwähnt, aber selten eingeordnet wurden: Arbeitsunfälle, Kälte, Asbest, Alkohol, Überstunden. 

"Der Körper war das Kapital des Werftarbeiters, das er eingesetzt hat, um anerkannt zu werden", sagt der Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler Wolfgang Hien. Die Männer hätten sich damals vor allem durch Stärke, Härte und Durchsetzungsvermögen ausgezeichnet, es sei selbstverständlich gewesen, dass der Beruf körperliche Belastungen mit sich bringe. Es sei nicht infrage gestellt worden, im Gegenteil. "Professionelle Arbeitsschützer wie die Gewerbeaufsicht wurden als lästig empfunden, wenn es hieß: 'Das geht so nicht. Ihr müsst hier eine Staubabsaugung machen.' Dann hieß es: 'Ach, das dauert viel zu lange, wir sind doch keine Memmen'." So berichtet es Wolfgang Hien von Gesprächen mit ehemaligen Arbeitern für eine Forschungsarbeit.

Arbeitsunfälle

Es ist in der Tat so, dass ehemalige AG-Weser-Beschäftigte zwar Arbeitsunfälle schildern, die damaligen Strukturen aber kaum kritisieren. "Beim Aushobeln von Schweißnähten muss man über Kopf schweißen. Da ist mir einmal die brennende Schlacke ans Bein geknallt. Da war richtig alles verbrannt. Nach vier Wochen konnte ich weiterarbeiten, da habe ich nichts mehr gemerkt", erinnert sich der ehemalige Schweißer Herbert Kienke.

Auf der Werft arbeitete man mit dem Wissen, einer ständigen Gefahr ausgesetzt zu sein. Das führte dazu, dass viele Arbeiter bestimmte Schmerzwahrnehmungen und Gefühle unterdrücken mussten, erklärt Hien. "Man musste gegen die Ängste und Risiken ankämpfen und sagen: 'Mich wird das schon nicht treffen. Und wenn ich ein paar Blessuren habe, dann ist das der Beweis dafür, dass ich hart gearbeitet habe'."

Doch manche traf es, dem Vernehmen nach nicht nur mit Verletzungen. "Ich habe von einem Fall gehört, dass da einer unter den Kran, unter die Platte geraten ist", erinnert sich der Schiffbauer Günter Reimann. Belegen lassen sich diese Angaben nicht, doch vermitteln sie einen Eindruck, wie die Beschäftigte damals Arbeitsunfälle akzeptierten.

Kienke schweißte zunächst ohne Mundschutz, ohne Helm, ohne Sicherheitsanzug. Das änderte sich erst mit "der Einführung des Prämienlohns 1968", sagt Kienke, "Da kriegte jeder umsonst Sicherheitsschuhe, eine Maske, Handschuhe, Blauanzüge oder Schweißanzüge. Wenn die kaputt waren, konnte er die umtauschen." Die Betriebsräte erkämpften damals nicht nur bessere Bezahlung mit Lohngruppen und Prämien, sondern auch bessere Arbeitsschutzmaßnahmen.

Asbest

Ende der 1960er-Jahre wurde deutlich, welche gesundheitsgefährdenden Auswirkungen die Arbeit auf der Werft haben konnte. Viele Beschäftigte klagten über Atemprobleme. Schweiß- und Brandrauch und vor allem langjährige Asbestbelastung machten den Arbeitern zu schaffen. Bis 1990 durfte man in Europa noch mit Asbest arbeiten. "Auf der AG Weser wurden bis zur Schließung Asbestplatten geschnitten und geflext", sagt Sozialmediziner Hien.

Auch Kienke erinnert sich daran zurück: "Bestimmte Stahlteile wurden auf 100 Grad vorgewärmt und dann geschweißt. Damit die nicht so schnell abkühlen, hatten wir Asbestmatten." Asbest ist ein Mineral, das vor allem für Brand- und Hitzeschutzisolierungen im Schiffbau eingesetzt wurde. Noch Ende der 70er-Jahre wurden 170.000 Tonnen Asbest in die Bundesrepublik importiert, schreibt Hien in seinem Buch "Die Arbeit des Körpers". Obwohl das Gewerbeaufsichtsamt Bremen 1968 einen ausführlichen Brief an die Werftleitungen schrieb, in dem Asbestgefahren benannt und Schutzmaßnahmen angeordnet wurden, änderten die Unternehmer nichts.

Kurz nach der Schließung der AG Weser im Jahr 1983 gründete Herbert Kienke eine Asbest-Selbsthilfegruppe im ehemaligen Verwaltungsgebäude der Werft. "Wenn er das erste Mal zu uns kommt, sieht er noch gut aus. Mit der Zeit geht es ihm schlechter, und am Ende kommt dann nur noch seine Frau", wird der ehemalige Werftarbeiter Heinz Rolappe in einem Artikel des WESER-KURIERS vom 6. Januar 1999 zitiert. Vor allem in den 90er-Jahren schnellten die Todeszahlen aufgrund von Lungenkrankheiten bei Arbeitern in die Höhe.

In Gesprächen mit Betroffenen erfuhr Hien, wie schwer es war, eine Anerkennung bei der Berufsgenossenschaft für Asbestose – die vernarbte Staublunge, die zu Lungenkrebs führen kann – oder eine Berufskrankheitenrente zu bekommen. "Wenn das Röntgenbild unklar ist, gerade bei Krebsfällen, dann heißt es: Er hat geraucht oder es kann andere Ursachen haben. Viele bekommen mit Lungenkrebs keine Anerkennung oder erst, wenn sie vor das Sozialgericht ziehen", sagt Hien. Die Selbsthilfegruppe von Kienke unterstützte dabei, Entschädigungsansprüche geltend zu machen.

Lebensstil und sozialer Kontext

"Bubi Schäfer" hieß die Kneipe, die so gut wie alle AG-Weser-Beschäftigten kannten. Viele verprassten das Geld der wöchentlichen Lohntüten dort noch am selben Tag. Es wurde viel getrunken in dieser Zeit. "Wir haben Betriebsratssitzungen gehabt, da ging der helle Schnaps rechts herum und der grüne links herum", erzählt der Ökonom Rudolf Hickel. Hien erläutert diesen Belohnungsablauf: "Wir haben festgestellt, und das ist in internationalen Studien auch belegbar, dass Rauchen, Trinken und Beisammensein auch entlastende Faktoren gegen diese Stressbelastungen waren, gerade, wenn ein Schiff fertiggestellt wurde." Entgegen anderer medizinischer Gutachten von Berufsgenossenschaften und Sozialmedizinern ist es ihm wichtig, festzuhalten, dass Kälte im Winter, Hitze im Sommer und körperliche Schwerstarbeit zu jeder Jahreszeit leichter zu ertragen waren, wenn ein bisschen Lebensfreude genossen werden konnte.

Der soziale Abstieg sei für viele kaum zu verkraften gewesen.
Arbeitswissenschaftler Wolfgang Hien über die Beschäftigten der AG Weser nach dem Aus der Werft

Er stützt diese These auch auf die Tatsache, dass für viele Werftarbeiter die Gemeinschaft eine wichtige Unterstützung darstellte. Die Schließung der AG Weser ließ nicht nur rund 2000 Menschen zunächst arbeitslos werden, sondern führte auch zu persönlichen Krisen. Im Interview sagten Arbeiter zu Hien: "Ich kannte meine Kollegen besser als meine Ehefrau." Als dieses Miteinander wegfiel, zogen sich einige Beschäftigte sozial zurück, isolierten sich. Hinzu kommt, dass die Beschäftigten für ihre Arbeit auf der Werft viel Anerkennung erhielten – stolze Arbeiter standen damals in Siegerpose bei einem Stapellauf neben "ihrem" Schiff. Mit dem Aus der Werft folgten Arbeitslosigkeit, teilweise Geringschätzung auf Arbeitsämtern, Scham. Der soziale Abstieg sei für viele kaum zu verkraften gewesen, sagt Hien.

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Zur Person

Wolfgang Hien (74) ist Medizinsoziologe und Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler. Er war Lehrbeauftragter für Public Health an der Universität Bremen. Als ehemaliger Referatsleiter für Gesundheitsschutz beim DGB-Bundesvorstand beschäftigt er sich mit den Anforderungen, die die moderne Arbeitswelt an den Menschen stellt. Er leitet das Forschungsbüro für Arbeit, Gesundheit und Biografie. Er forschte unter anderem zur Lebenssituation ehemaliger Werftarbeiter der Vulkan-Werft und der AG Weser.

Gesundheits- und Arbeitsschutz sind Themen, die Hien bis heute beschäftigen. Er versucht dieses Bewusstsein auch auf neue Arbeitsmodelle zu übertragen. Man müsse aus den früheren Arbeitsbedingungen lernen und auf eine kontinuierliche Beratung der Betroffenen setzen. Die Fragen: "Was ist aushaltbar? Wo beginnen inhumane Arbeitsbedingungen" sollten sich ständig neu gestellt werden.

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