Der tendenzielle Rückgang des chinesischen Wachstums sorgt in Europa, zusätzlich zur Euro-Schuldenkrise, für Besorgnis. Auf der Logistikmesse in Shanghai ist davon wenig zu spüren. Gerade für die Logistik stehen die Chancen gut, innerhalb Chinas stärker Fuß zu fassen. Wegen der steigenden Lohnkosten in den Küstenregionen weichen immer mehr Unternehmen ins Hinterland aus. Transportwege werden länger, und damit steigt Druck zu mehr Effizienz.
Shanghai. Ausgerechnet eine Chinesin war es, die auf der Logistikmesse in Shanghai den Rückgang des Wirtschaftswachstums in ihrem Heimatland ansprach: Jean Wang hat 2002 in China ein eigenes Logistikunternehmen gegründet, mit dem sie sehr erfolgreich ist. Sie arbeitet im Vorstand der Bundesvereinigung Logistik (BVL) in Peking mit und kennt deshalb die Bedenken der Europäer gut.
Auf dem deutsch-chinesischen Wirtschaftsforum umriss sie kurz die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen: Um die Folgen der internationalen Finanzkrise abzumildern, hatte die chinesische Regierung 2009 ein gigantisches Investitionsprogramm über vier Milliarden Dollar aufgelegt. Das trug zur Bildung einer Immobilienblase und zum Anstieg der Inflationsrate bei, was die Regierung in Peking jetzt durch eine rigidere Geldpolitik eindämmen will. Die Folge: Das erste Quartal 2012 beendete China mit dem niedrigsten Wachstum (8,2 Prozent) des Bruttoinlandsprodukts seit vielen Jahren.
Dennoch versicherte Wang: „China wird in den nächsten 20 Jahren schnell weiter wachsen.“ Treiber dafür, so die Unternehmerin, werden ein massiver Ausbau der Infrastruktur, eine Finanzreform und die wachsende Urbanisierung sein. Es werde damit gerechnet, dass in den nächsten 30 Jahren weitere 300 Millionen Menschen in die Städte drängen, verbunden mit einem Anstieg der Kaufkraft und neuen Anforderungen an die Logistik, um die Versorgung dieser Menschen zu sichern.
Es sind im Wesentlichen zwei Tendenzen, die die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in China derzeit bestimmen: Immer mehr Menschen streben auf der Suche nach Arbeit und sozialem Aufstieg in die Millionenstädte, die überwiegend in der Küstenregion liegen – während viele Unternehmen ihre Produktion immer weiter ins Binnenland verlagern, weil das Lohnniveau dort noch niedriger ist. Wenn immer mehr Material und Vorprodukte quer durchs Land transportiert werden müssen, steigen aber die Kosten für Logistik.
Schon jetzt liegt der Gesamtanteil dieser Kosten in China laut Jean Wang bei 17,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und damit deutlich über dem Wert vieler anderer Länder. „Die Logistikprozesse bei uns sind noch wenig effizient“, sagte sie – wenig durchgeplant, sehr zeitintensiv und nicht immer zuverlässig. So deutlich hätte das sicher keiner der deutschen Gäste formuliert. Gerade weil die Lohnkosten steigen, wächst auch die Nachfrage nach besseren und günstigeren Lieferketten, so Wang – eine große Chance für deutsche Logistiker. Und auch eine Herausforderung für China, sagte sie. Denn die Voraussetzungen müssten durch den Ausbau der Infrastruktur, Reformen in der Industrie und Abbau von Bürokratie geschaffen werden.
Noch werden 90 Prozent aller Waren in China mit Lkws transportiert. Gerade für die großen Städte ist das angesichts der Feinstaubbelastung auf Dauer unhaltbar. Aber vor allem für die Verlagerung der Produktion ins Hinterland wären wegen der großen Entfernungen Bahntransporte die bessere Lösung, glaubt auch Wang. Dazu müssten allerdings viele Tausend Kilometer neue Bahntrassen gebaut werden. Eigentlich eine Riesenchance für die Deutsche Bahn als möglichem Partner. Deren Gütertransport-Tochter DB Schenker fehlte diese Woche allerdings auf der Logistikmesse in Shanghai.
Beim Hannoveraner Reifenhersteller Continental hat man die Chancen des innerchinesischen Marktes längst erkannt: „Es geht nicht mehr darum, Waren von und nach China zu transportieren, sondern in China für den chinesischen Markt zu produzieren“, sagt Jörg Biesemann von Continental Automotive, zuständig für den Bereich Asien/Pazifik. In Chinas gelenktem Kapitalismus entwickeln zunehmend mittelständische Strukturen. Laut Biesemann gibt es rund 700000 Unternehmen, davon 90 Prozent mit weniger als 500 Beschäftigten.
Die Logistik zur Versorgung dieser Firmen ist meist kleinteilig. Es gibt in China keine Logistikunternehmen wie Schenker, Kühne+Nagel oder auch die Bremer BLG, die durchgeplante Lieferketten aus einer Hand anbieten. Die vier größten Logistiker Chinas decken gerade einmal fünf Prozent des Marktes ab, so Biesemann. Auch hier gibt es also große Chancen für deutsche Unternehmen, die dafür große Kompetenz mitbringen. Flexibilität und Improvisationstalent der Chinesen plus Effizienz und Zuverlässigkeit deutscher Partner, das ist für Biesemann eine nahezu ideale Mischung.
In deutsch-chinesischen Partnerunternehmen gehe es heute darum, gemeinsam Produkte und Logistik für den chinesischen Markt zu entwickeln, sagte BLG-Chef Detthold Aden. Aber auch darum, den Chinesen Dienstleistungen für den Markteintritt ihrer Autos in anderen Märkten anzubieten. „China holt sehr schnell auf, auch was den industriellen Standard betrifft“, so Aden. In Brasilien seien chinesische Wagen bereits „ein Renner“.
Ungeachtet des Flops für die Marke Brilliance, die die BLG gemeinsam mit Marcel Harms auf den europäischen Markt bringen wollte, sagte Aden, es werde nicht mehr lange dauern, bis chinesische Autobauer einen ähnlichen Standard erreicht hätten wie die westlichen Industriestaaten. Gerade Joint Ventures würden dazu beitragen, Lernprozesse in Gang zu setzen. Das sei für beide Seiten lohnend, denn deutsche Dienstleister seien wegen ihrer hohen Lohnkosten zwar nicht billig, könnten aber durch hohe Qualität überzeugen.
„China schreitet immer noch gewaltig voran“
Die Versorgung von Megastädten gehört für Thomas Wimmer, oberster Geschäftsführer der Bundesvereinigung Logistik (BVL), zu den Kernthemen der Logistik für das kommende Jahrzehnt. In der Megacity Shanghai mit rund 20 Millionen Einwohnern sprach er darüber mit Annemarie Struß-von Poellnitz.
In Deutschland wird zur Zeit viel über den Rückgang des Wirtschaftswachstums in China geredet. Wie ernst ist die Lage?Thomas Wimmer:
Wir reden über einen Rückgang von 9,5 auf 8,2 Prozent. China schreitet immer noch gewaltig voran. Für Deutschland gibt es vor allem zwei Wachstumstreiber: Immer noch die USA, schon allein wegen der Größe des dortigen Marktes, und die Bric-Staaten Brasilien, Russland, Indien zur Zeit weniger, aber vor allem China.
Wirkt sich die Eurokrise auf die Wirtschaftsbeziehungen zu China aus?
Die chinesischen Unternehmen trifft das weniger, eher den Staat, der sich durch den Kauf europäischer Staatsanleihen und Devisen festgelegt hat. Für Investoren ist der niedrige Eurokurs eher günstiger.
Wie weit ist die Logistik in China entwickelt?
Der Transport findet hier immer noch zu 90 Prozent mit Lastwagen statt. Es gibt wenig Bewusstsein für die Möglichkeiten mit Bahn und Binnenschiff. Dafür sind die Chinesen aber sehr gut in der City-Logistik.
Was meinen Sie damit?
Shanghai hat 20 Millionen Einwohner. Die Stadt lebt und wird versorgt. Es ist nicht einfach, so viele Waren in ein Ballungsgebiet zu bringen. Das gelingt, weil es hier noch üblich ist, dass Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs immer wieder angefasst und umgeladen werden, vom Laster auf den Kleintransporter und am Ende bis auf den Motorroller oder das Fahrrad. Dadurch ist das System sehr flexibel.
Aber auch sehr personalintensiv?
Genau. Das ist nur wegen der relativ geringen Lohnkosten möglich. In Europa ginge das so nicht. Aber auch hier in Shanghai wachsen die Probleme, weil zum Beispiel Produktion in Randgebiete ausgelagert wird. Durch eine starke Trennung von wohnen, produzieren und einkaufen verlängern sich die Wege und der Verkehr steigt.
Das Bundesverkehrsministerium hat im letzten Jahr in Peking gemeinsam mit China ein Projekt zu Green Logistics, einer nachhaltigen Logistik, gestartet. Wie ernsthaft ist das Interesse an diesem Thema?
Die Chinesen haben durchaus erkannt, dass hier im Land durch falsche Logistik ein großer Schaden für die Umwelt entstehen würde, aber die Umsetzung ist nicht immer konsequent. Dennoch: Die Bereitschaft, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, ist vielfach größer als bei uns.
Die chinesische Regierung setzt stark auf die Ankurbelung der Binnennachfrage. Was bedeutet das für deutsche Unternehmen, die in China aktiv sind?
In China entwickelt sich eine kaufkräftige Mittelschicht. Das sieht man auch hier in Shanghai, zum Beispiel beim Wohnungsbau. Es entstehen nicht mehr nur Hochhäuser mit billigen Mietwohnungen, sondern auch attraktive Gebäude für zahlungskräftige Kunden. Deutsche Unternehmen kommen nicht mehr hierher, um billig für Europa zu produzieren, sondern für den chinesischen Markt.
Erleben wir damit gerade eine neue Phase der Globalisierung?
Globalisierung heißt ja nicht unbedingt, dass in China billige Konsumgüter für Europa produziert werden und in Deutschland hochwertige Maschinen für Asien. Je mehr die Schwellenländer sich entwickeln, desto stärker wächst der Handel untereinander.
Besteht die Gefahr, dass deutsche Unternehmen diesen Wandel nicht rechtzeitig registrieren und irgendwann aus dem Spiel sind?
Wenn es um Innovation geht, klopfen die Schwellenländer immer noch bei uns an. Deutschland steht sehr stark für innovative, hochwertige Industriegüter. Das müssen wir uns unbedingt erhalten.
Zur Person
Thomas Wimmer, geboren 1959 in Hamburg, ist Vorsitzender der Geschäftsführung der Bundesvereinigung Logistik (BVL) und Professor mit dem Schwerpunkt Internationale Logistikketten.
Zitat:
„Die Logistikprozesse
bei uns sind noch
wenig effizient.“
Logistik-Unternehmerin Jean Wang