Viele Seeleute sind am Ende: Seit Januar zogen Handelsschiffe 40.000 Flüchtlinge aus untergehenden Booten im Mittelmeer. Dazu verpflichtet sie internationales Recht. Für die Männer eine enorme psychische Belastung.
Die Frau auf dem Flüchtlingsboot klammert sich mit einer Hand an der Strickleiter fest, die die Besatzung des Containerschiffs heruntergelassen hat. Mit der anderen drückt sie ein kleines Kind an sich. Den Seeleuten ist klar: Sie wird es nicht schaffen, die 13 Meter hohe Bordwand zu erklimmen.
„Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was passiert wäre, wenn sie sich nicht hätte halten können. Frau und Kind hätten keine Chance gehabt“, sagt Heike Proske. Sie kennt viele solcher Berichte von Seeleuten. Die 53-jährige Pastorin leitet als Generalsekretärin die Deutsche Seemannsmission mit Sitz in Bremen, die Seeleuten aus aller Welt mit Seelsorge und sozialen Hilfen zur Seite steht. In diesem Fall ging die Sache gut aus. „Einer von der Crew ist mit einer Art Rucksack runtergeklettert und hat das Kind darin nach oben getragen – unter Einsatz seines eigenen Lebens.“
Handelsschiffe retteten 40.000 Menschen das Leben
Immer wieder müssen Seeleute auf Handelsschiffen Flüchtlinge retten, die von Schleusern in oftmals untaugliche Schiffe und Schlauchboote gesetzt und auf hohe See geschickt werden. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR schätzt, dass seit Jahresbeginn mehr als 300.000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa geflohen sind. Dabei seien vermutlich mehr als 2500 ertrunken.
Die europäischen Reedereien haben mehrfach an die Regierungschefs der EU appelliert, die staatliche Seenotrettung in der Region auszuweiten. Im Rahmen der Mission Triton wurde das EU-Seenotrettungsgebiet dann im Juni in südlicher Richtung ausgedehnt. Aus Sicht des Verbands Deutscher Reeder (VDR) ein wichtiger Schritt, um Boote früher als bisher zu entdecken und den Flüchtlingen helfen zu können. Auch der Einsatz der Deutschen Marine und Kriegsschiffe anderer Nationen im Seegebiet vor der libyschen Küste haben in den vergangenen Monaten erheblich zur Entlastung beigetragen, sagt VDR-Geschäftsführer Max Johns. Laut VDR waren Handelsschiffe im vergangenen Jahr an 800 Einsätzen beteiligt und konnten 40.000 Menschen das Leben retten. In diesem Jahr seien von ihnen bislang 15.000 Flüchtlinge an Bord genommen und in sichere Häfen gebracht worden.
Keine Bremer Reedereien betroffen
Schiffe von Bremer Reedern waren daran offenbar nicht beteiligt. Mehrere Unternehmen erklärten, bislang nicht betroffen gewesen zu sein. Auch dem Bremer Rhederverein liegen keine Informationen dazu vor. „Dass schließt aber nicht aus, dass es solche Fälle gegeben hat“, sagt Robert Völkl, Geschäftsführer des Rhedervereins. Nicht jeder Unternehmer habe ein Interesse daran, öffentlich darüber zu sprechen.
Zu den Kosten der Hilfsaktionen will man sich beim VDR nicht äußern. Es soll auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass solche Überlegungen bei der Diskussion über die Rettungsmaßnahmen eine Rolle spielen. Nach unbestätigten Informationen haben die Reedereien Verluste im sechsstelligen Bereich gemacht, weil ihre Schiffe etwa wegen der aufgenommenen Flüchtlinge im Hafen festgehalten wurden und die Ladungen nicht pünktlich gelöscht werden konnten. Verluste, für die teilweise die Versicherung aufkommt.
Reeder mit Situation überfordert
„Es geht uns nicht darum, ob man da irgendwo ein paar Tausend Dollar verliert oder nicht“, betont VDR-Geschäftsführer Johns. Sondern es gehe darum, dass den Flüchtlingen möglichst professionell und effektiv geholfen werde. Aber darauf seien die Handelsschiffe und vor allem deren Besatzungen nicht eingerichtet. „Da ist man dann mit 15, maximal 20 Leuten an Bord und steht mehreren hundert Notleidenden gegenüber.“ Man könne jetzt nicht von 20.000 Handelsschiffen verlangen, dass sie prophylaktisch Container mit Wolldecken und Medizin an Bord haben. „Da kommt man schnell an seine Grenzen.“
Die Reedereien hoffen nun auf einen politischen Konsens, nach dem die Marineschiffe als staatliche Retter vor Ort bleiben, um die italienische Marine zu unterstützen. Weil die Seestreitkräfte aber auch nur begrenzte Kapazitäten haben und es auf die Dauer kaum sinnvoll sei, hochgerüstete Kampfschiffe für Rettungszwecke zu nutzen, schlägt der Verband vor, dem Beispiel der norwegischen Regierung zu folgen. Die habe ein normales Frachtschiff gechartert und, mit medizinischem Personal ausgestattet, ins Mittelmeer geschickt. Johns: „Das wäre sicher auch für andere EU-Staaten eine praktikable Lösung.“ Umso seltener müssten dann die Handelsschiffe zu Hilfe kommen.
Deren Besatzungen stießen zunehmend auch an ihre psychischen Grenzen. Vor den Augen der Seeleute seien viele Flüchtlinge ertrunken oder an Bord an Unterkühlung gestorben. „Das ist vor allem eine humanitäre Katastrophe für die Flüchtlinge, aber auch eine unfassbare Belastung für die Besatzung. Darüber kommt kein normaler Mensch hinweg, nie wieder.“
"Ich will nie wieder über Kinderrucksäcke fahren"
Heike Proske von der Seemannsmission hat immer wieder Kontakt mit Seeleuten, die mit dem Erlebten nicht fertig werden. „Sie brauchen jemanden, mit dem sie darüber reden können. Von Arbeitgeberseite hört ihnen niemand zu und ihre Familien wollen sie damit nicht belasten. Aber sie müssen es loswerden.“ Die Pastorin erzählt von dem Anruf eines deutschen Kapitäns. Es ist schon Monate her, aber sie erinnert sich noch an jedes Wort. „Er sagte, ich sitze hier auf Malta und auf dem Weg hierher bin ich über Kinderrucksäcke gefahren. Ich will nie wieder über Kinderrucksäcke fahren.“ Auch andere Seeleute hätten ihr erzählt, dass sie am liebsten im Dunkeln fahren. Dann würden sie nicht sehen, was da alles im Wasser herumtreibt. „Es ist immer die Angst, es könnte ein Leichnam oder das Gepäckstück eines Ertrunkenen sein.“

Heike Proske ist Generalsekretärin der Deutschen Seemannsmission (DSM) mit Hauptsitz in Bremen.
Es ist vor allem die eigene Hilflosigkeit, mit der die Seeleute nicht klarkommen, sagt Proske. „Ich weiß von einem Tanker, der ein in Seenot geratenes Boot erreicht hatte – an Bord 23 Flüchtlinge, also eine vergleichsweise kleine Gruppe. Die Bordwand des Tankers war relativ niedrig. Deshalb hatte die Mannschaft gedacht, sie könnten es schaffen, alle aufs Schiff zu holen. Am Ende konnten sie dann aber nur die Hälfte der Menschen retten. Die anderen sind im Wasser untergegangen.“
Einige wollen nicht mehr raus fahren
Es gibt Seeleute, die wollen unter dem Eindruck der Ereignisse auf keinen Fall mehr übers Mittelmeer fahren. Andere quittieren ihren Dienst ganz. Zwei von ihnen hat Heike Proske selbst seelsorgerisch betreut. Einer der beiden hat sich für neun Monate beurlauben lassen. Nach einer Therapie will er jetzt ausprobieren, ob er es noch mal schafft, zur See zu fahren. Der zweite will an Land bleiben und als Lotse anheuern. „Der will gar nicht mehr aufs Meer. Er sagt, das müsse er sich in seinem Alter nicht mehr antun.“
Die Besatzungen, so kritisiert die Deutsche Seemannsmission, seien für die Rettungseinsätze nicht ausgebildet. „Die Seeleute müssen ohnehin immer wieder Sicherheitskurse und Lehrgänge absolvieren, da müsste man eine Einheit Flüchtlingsrettung einbauen“, sagt die Pastorin.
Die Rettungseinsätze der Handelsschiffe hätten sich zwar inzwischen deutlich reduziert, doch Proske ahnt, dass sich die Lage schnell wieder ändern kann. „Demnächst beginnen die Herbststürme. Niemand weiß, was dann passiert.“
Zur Hilfe verpflichtet
- Jeder Schiffsführer ist verpflichtet, Menschen in Seenot zu helfen. Dabei ist es völlig egal, warum jemand in Seenot geraten ist.
- Wird Hilfe verweigert, drohen strafrechtliche Konsequenzen.
- Die Rettungsaktionen im Mittelmeer werden von der Seenot-Leitstelle (Maritime Rescue Command Center, MRCC) in Rom koordiniert. Wenn Marineschiffe, Küstenwache oder die Triton-Luftaufklärung ein Flüchtlingsboot auf dem Meer entdecken, melden sie dies ans MRCC. Das prüft dann, welches Schiff in der Nähe ist und sich an der Rettung beteiligen soll. Alles Schiffe senden automatisch und kontinuierlich Navigations- und Schiffsdaten, so können sie problemlos geortet werden. Wird dann etwa ein Handelsschiff aufgefordert zu helfen, ist es verpflichtet, unverzüglich zu den angegebenen Koordinaten fahren. Wenn ein Schiff selbst ein Flüchtlingsboot entdeckt hat, muss es sich zuerst ans MRCC wenden und dann auf dessen Anweisungen handeln.