In der Bremer Innenstadt herrscht Aufbruchsstimmung. Es gibt konkrete Pläne, die Einkaufsstraßen und -passagen in der City umzugestalten. Ein paar hundert Meter weiter, im Ostertor und Steintor, ist von dieser Aufbruchsstimmung nichts zu spüren. Nur wenige Passanten laufen an diesem Nachmittag den Ostertorsteinweg entlang. Im Sneakerladen Glückstreter begrüßt Inhaber Stefan Schrader vereinzelte Kunden. „In den letzten Jahren ist es auf den Straßen im Viertel zunehmend leerer geworden“, sagt Schrader, der Glückstreter seit fünf Jahren führt.
Eine Entwicklung, die den Einzelhändlern zu schaffen macht. „Seit ich hier bin, sind ein paar Läden weggebrochen“, sagt Schrader. „Aus einem Dildoladen wurde ein Handyladen, aus einem Klamottenladen ein Blumenladen, aus einem anderen ein Immobilienmakler.“ Warum weniger Menschen im Viertel einkaufen, kann Schrader nur vermuten.
„Der Onlinehandel ist sicher einer der Gründe“, sagt er. Die Konkurrenz durch Online-Versandhändler wie Amazon oder Zalando bekommt er selbst zu spüren: In seinem Sneakerladen erlebt er immer wieder Kunden, die Schuhe anprobieren, nach dem Namen des Modells fragen und es anschließend googeln, um Preise zu vergleichen – teilweise direkt vor Schraders Augen.
"Einer der wichtigsten Standorte"
Das kennen auch andere Verkäufer und Geschäftsbesitzer im Viertel. Ein paar Meter neben Glückstreter verkauft Shahrokh Hejazi in der Fromagerie Mittagsgerichte, Käse, Wurst und Wein. Er vertritt heute seine Frau, die Inhaberin des Feinkostgeschäfts. „Ich beobachte ein eingedämmtes Kaufverhalten der Leute“, sagt Hejazi. „Die gucken im Einzelhandel und danach im Internet, da kannst du jeden Schnaps, jeden Schuh, jeden Wein kaufen.“
Auf der anderen Straßenseite verkauft Mahnaz Moghaddamnia seit 21 Jahren Mode in ihrer Boutique Beverly Boyer. „Die Gesinnung geht dahin, am Laptop zu bestellen“, sagt sie. „Kioske können nur überleben, weil sie Postannahmestellen sind. Da stapeln sich H&M-Pakete, obwohl H&M nur zehn Minuten von hier entfernt ist.“ Ihre Prognose für die Zukunft des Viertels fällt düster aus: „Die Leute werden erst aufwachen, wenn das hier eine Wohnstraße ist.“
Jan König vom Handelsverband Nordwest ist optimistischer: „Das Viertel ist mit seinen vielseitigen Angeboten einer der wichtigsten Standorte in Bremen, das wird erst mal nicht verloren gehen.“ Er berichtet zwar von bundesweit zurückgehenden Kundenfrequenzen, nennt das Viertel aber „noch einen der gesünderen Stadtteile in Bremen“. In anderen Gegenden soll es weitaus schlechter um den Einzelhandel stehen. „Aber der Standort leidet unter dem Onlinehandel.“
Gegen die wachsende Konkurrenz aus dem Internet wehrt sich der Surfshop Charchulla, schräg gegenüber der Fromagerie. Vor dem Laden, der 1995 eröffnete, steht häufig ein Schild, das an die Kunden appelliert. Dort heißt es: „Bitte seid fair. Von Beratung und Anprobe allein können wir nicht leben. Beratung und Anprobe bei Charchulla – Kauf im Netz: das geht nicht!“ Das scheint zu wirken: Das Bewusstsein der Kunden des Surfshops, dass sie für gute Beratung mehr Geld ausgeben müssten, sei in den vergangenen Jahren gestiegen, sagt Kai Wurster, der seit 1999 bei Charchulla arbeitet.
Alles von der Wiege bis zur Bahre
Anderen ist es weniger gut ergangen: Die beiden Geschäfte direkt neben dem Surfshop stehen leer. „Da war früher ein Outdoorladen drin, der ist umgezogen, in dem anderen waren immer wieder Modegeschäfte“, sagt Wurster. Es gebe aber schon neue Mieter. Denn Leerstand in den Einzelhandelsimmobilien im Viertel gebe es kaum, neue Mieter mit interessanten Konzepten werden immer schnell gefunden, so die Wirtschaftsförderung Bremen (WFB).
Auch für die Räumlichkeiten von Blumen-Lauprecht im Steintor steht schon ein Nachfolger fest. Der Blumenladen schließt Ende März nach 108 Jahren Firmentradition. Ronald Kurmis, Sohn der Inhaberin Lieselotte Lauprecht-Kurmis, entrümpelt derzeit gemeinsam mit seiner Kollegin Gerda Friedrich das Geschäft. „Wir schließen aus Alters- und Gesundheitsgründen, meine Mutter ist 75 Jahre alt“, sagt er.
Kurmis kennt das Viertel noch aus früheren Zeiten: „Hier bekam man von der Wiege bis zur Bahre alles“, erinnert er sich. „Das hat sich über die Zeit sehr verändert. Es gab im Viertel früher eine Gastronomiesperre, die wurde im Steintor aufgehoben, als hier viel Leerstand war.“ Um die Lücken zu füllen, wurden Konzessionen an Restaurants und Kneipen vergeben – heute bestehe die Gefahr, dass die Gastronomie gegenüber Einzelhändlern zu dominant werde, sagt Kurmis.
Kriminalität als ein Hauptproblem
Doch auch vor den Kneipen sei im vergangenen Sommer weniger los gewesen, berichtet eine Verkäuferin eines Modegeschäfts. Sie möchte anonym bleiben, weil der Laden, für den sie spricht, nicht ihr gehört. „Es läuft katastrophal“, sagt sie. Die Verkäuferin arbeitet seit 17 Jahren im Viertel und empfindet die Kriminalität als ein Hauptproblem. „So schlimm war es noch nie“, berichtet die Frau. „Ich traue mich abends kaum noch durch die Seitenstraßen. Ich glaube, viele von außerhalb trauen sich auch nicht mehr her.“
Die Polizei tue etwas dagegen und unternehme verstärkt Kontrollgänge im Viertel, sagt Hellena Hartung, Leiterin des Ortsamts Mitte/Östliche Vorstadt – darüber sei sie froh. Die Diskussion um Kriminalität im Viertel ist laut Jan König vom Handelsverband Nordwest aber natürlich nicht förderlich für den Einzelhandel. Während Einzelhändler im Ostertor davon berichten, dass die steigende Zahl von Handyshops, und Wettbüros nicht gerade zum Einkaufsbummel einladen, empfindet „Bunny“ von Ear-Schallplatten im Steintor die neuesten Geschäfte als Bereicherung.

Gregor Schlag von der Buchhandlung Sieglin hält das veränderte Freizeitverhalten vieler Menschen für ein Problem der Einzelhändler.
„Es kommen keine neuen Kioske, Friseure und Nagelshops mehr, sondern Läden mit guter Qualität“, sagt er. Die verkauften beispielsweise alte Möbel und lockten wieder mehr Leute auf die Straßen. Bunny führt den Schallplattenladen schon seit mehr als zehn Jahren. Gut von seinem Geschäft leben kann er nicht, sagt er, aber es macht ihm Spaß. „Ich finde, es ist nicht weniger los im Viertel, es ist einfach anders“, sagt Bunny.
Und natürlich hat auch er Probleme wegen der Konkurrenz durch den Onlinehandel. „Das Internet, speziell Amazon, macht es allen Läden total schwer“, berichtet er. „Es ist ein Problem, dass man alles kostenlos zurückschicken kann.“ Ein paar Geschäfte weiter arbeitet Til Sieglin, ein echtes Urgestein im Viertel, oder auch Fossil, wie er sich selbst nennt. Er führt die Buchhandlung Sieglin, die sein Vater 1957 gegründet hat.
Der Sohn stieg 1975 ins Geschäft ein, heute leitet er die Buchhandlung mit seinem früheren Lehrling Gregor Schlag. Die beiden sitzen im Büro im Hinterzimmer und seufzen, als sie vom Wandel im Viertel berichten sollen. Vor 30 Jahren sei es sehr gut gelaufen, sagt Sieglin. „Damals gab es hier nur zwei Buchhandlungen, beide hatten doppelt so viel vorrätig wie heute.“ Er verkaufe aber nicht nur wegen des Onlinehandels weniger: „Zwischen Steintor und Ostertor gibt es mittlerweile sechs Buchhandlungen, das ist ein beinharter Konkurrenzkampf.“
"Wir hoffen, dass die Stadt mehr für die Sauberkeit tut"
Gregor Schlag beobachtet zudem ein anderes Freizeitverhalten der Menschen gegenüber vergangenen Jahren: „Früher ging man ins Viertel, wenn man frei hatte, aß ein Eis, ging Bummeln. Heute guckt man Netflix oder treibt Sport, in Läden gehen viele nur noch gezielt, man bummelt nicht mehr.“ Junge Kunden gebe es aber trotzdem noch.
Ein weiteres Problem, berichten die beiden, sind Schmutz und Müll im Viertel. „Durch die Kneipen gibt es viel Verunreinigung, Erbrochenes. Und wenn Werder spielt stehen überall Bierflaschen“, sagt Sieglin. „Das lädt nicht zum Aufhalten ein. Wir hoffen, dass die Stadt mehr für die Sauberkeit tut.“ Auch Hellena Hartung, Leiterin des Ortsamts Mitte/Östliche Vorstadt, kennt das Problem: „Es gibt eine stärkere Wegwerfmentalität.“ Das Viertel brauche mehr Reinigungskräfte, so Hartung.
Zurück im Ostertor hat Glückstreter-Inhaber Stefan Schrader sein Umsatzziel für den Tag trotz erreicht. Trotz des Schwunds an Passanten bleibt er optimistisch: „Ich glaube nicht, dass der Einzelhandel hier abreißen wird. Es gibt ja den Trend, Produkte aus der regionalen Landwirtschaft zu kaufen. Ich könnte mir vorstellen, dass es auch wieder ein Trend wird, in die Stadt zu gehen und dort einzukaufen.“