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Genossenschaften, Teil 1: Kooperative Zusammenschlüsse haben wieder Zulauf und erobern ganz neue Bereiche Klein bleiben, aber groß wirken

Eine alte Idee kommt zu neuen Ehren. Die Vereinten Nationen haben 2012 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften ausgerufen. Sie wollen damit auf die Bedeutung von genossenschaftlich organisierten Unternehmen aufmerksam machen. In einer mehrteiligen Serie werden wir Bremer Genossenschaften aus verschiedenen Branchen vorstellen.
02.07.2012, 05:00 Uhr
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Klein bleiben, aber groß wirken
Von Petra Sigge

Eine alte Idee kommt zu neuen Ehren. Die Vereinten Nationen haben 2012 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften ausgerufen. Sie wollen damit auf die Bedeutung von genossenschaftlich organisierten Unternehmen aufmerksam machen. In einer mehrteiligen Serie werden wir Bremer Genossenschaften aus verschiedenen Branchen vorstellen.

Bremen. "Genossenschaften zeigen der internationalen Gemeinschaft, dass beides möglich ist: Wirtschaftlichkeit und soziale Verantwortung", begründete UN-Generalsekretär Ban Ki Moon die Entscheidung der Vereinten Nationen, 2012 zum Jahr der Genossenschaften zu erklären. In Deutschland galten Genossenschaften bis in die 90er Jahre als verstaubt und altmodisch. Inzwischen findet die Idee eines solidarischen Wirtschaftens jedoch auch hierzulande wieder immer mehr Anhänger. Deutschlandweit gibt es aktuell rund 7500 Genossenschaften mit 800000 Beschäftigten und 20 Millionen Mitgliedern. Das heißt, jeder vierte Deutsche gehört einer Genossenschaft an. Praktisch jeder Landwirt ist Mitglied in einer oder mehreren Genossenschaften. Die Wohnungsbaugenossenschaften haben 3,2 Millionen Mitglieder und bewirtschaften zehn Prozent aller Mietwohnungen in Deutschland.

Allein im vergangenen Jahrzehnt wurden mehr als 1230 neue Kooperativen gegründet. 2011 kamen nach vorläufigen Zahlen noch einmal 400 hinzu. Gemessen an der Gesamtzahl der Unternehmensneugründungen ist das nicht viel, räumt Professorin Theresa Theurl ein. Die Volkswirtschaftlerin leitet an der Universität Münster das Institut für Genossenschaftswesen. "Derzeit kommt etwa auf 3000 Firmenanmeldungen eine Genossenschaftsgründung", so Theurl. "Doch die Tendenz ist stark steigend."

Zugleich gebe es immer mehr Neugründungen in expandierenden Branchen, die nicht traditionell genossenschaftlich organisiert sind. Das gelte vor allem für die Bereiche Energie und Gesundheitswesen. Aber auch immer mehr berufliche Einzelkämpfer wie Software-Entwickler, Ärzte, Architekten und Künstler schließen sich in Kooperativen zusammen.

Die Vorteile liegen für Theurl auf der Hand: "Eine Genossenschaft hat den entscheidenden Vorteil, dass man einerseits klein und selbstständig bleiben kann, andererseits aber da, wo wirtschaftliche Größe notwendig ist, so schlagkräftig sein kann wie ein großer Konzern." So ließen sich durch einen gemeinsamen Ein- und Verkauf günstigere Konditionen erzielen, gleichzeitig helfe ein gemeinsames Auftreten bei der Akquisition von Aufträgen. Theurl: "Ein kleiner Schreiner kann nicht als einzelner für große Gewerke bieten. Als Mitglied in einer Handwerkergenossenschaft kann er dagegen auch große Aufträge an Land ziehen, die dann gemeinschaftlich abgearbeitet werden."

Diesen Vorteil nutzen auch immer mehr Kreative für sich, berichtet Theurl. So hätten sich in Berlin zum Beispiel Künstler zu einer Musikergenossenschaft zusammengetan. Mit dabei sind auch Eventmanager und Betreiber von Veranstaltungslokalen. "Die Musiker müssen nicht mehr warten, bis sie von irgendwem engagiert werden, sondern können jetzt selbst große Musikveranstaltungen organisieren."

Der Boom der Genossenschaften hat jedoch nicht nur praktische und wirtschaftliche Gründe. Oftmals sind es auch die leeren Kassen der Kommunen, die den Anstoß geben. Dann sind es die Bürger, die sich in Eigenregie oder zusammen mit der Gemeinde darum kümmern, dass eine Sportanlage oder ein Schwimmbad weiter betrieben wird, dass das Kino vor Ort nicht schließen muss oder wieder ein Dorfladen eröffnet wird. "Je größer die Not der öffentlichen Hand, desto stärker wächst der Bürgersinn", glaubt Theurl. Und genau das sei ja auch der Gründungszweck einer Genossenschaft: "Wenn der Einzelne zu klein ist und man nicht auf Hilfe von außen warten will, dann gründet man eine Genossenschaft."

Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung – das sind die Grundsätze der Genossenschaftsbewegung. Zu den Pionieren gehörte Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Mitte des 19. Jahrunderts gründete er im Westerland erste Hilfsvereine und Darlehenskassen, um die notleidenden Bauern zu unterstützen. Zeitgleich organisierte der liberale Politiker Hermann Schulze-Delitzsch in Preußen eine Hilfsaktion für verarmte Handwerker. "Rohstoffassoziationen" machten es möglich, Material gemeinsam günstiger einzukaufen. Über "Vorschuss-Vereine" – Vorläufer der heutigen Volksbanken – konnten sich die Gewerbetreibenden gegenseitig Geld leihen.

In der letzten Finanzkrise, in der etliche Großbanken und Landesbanken mit Ramschpapieren Millionen verzockten, waren die genossenschaftlichen Kreditinstitute der einzige Bankensektor, der nicht auf Staatshilfe angewiesen war. "Der Unternehmenszweck einer Genossenschaft ist nicht die Gewinnmaximierung, sondern der Nutzen für die Mitglieder", sagt Theurl. "Bestimmte Risiken werden da gar nicht erst eingegangen." Das sei ein Grund, warum es unter Genossenschaften kaum Insolvenzen gibt, ein weiterer die regionale Ausrichtung solcher Unternehmen. "In der Region kennt man den Markt und seine Geschäftspartner ganz genau." Dass da nichts aus dem Ruder läuft, dafür sorgt auch der eigene Prüfungsverband, von dem sich jede Genossenschaft regelmäßig kontrollieren lassen muss.

Für die einzelnen Mitglieder ist das Risiko begrenzt. Sie haften nur in Höhe ihrer Einlage, die sie in die Genossenschaft eingezahlt haben. "Für eventuelle Schulden müssen sie nicht aufkommen", erklärt die Expertin. Die Hürde für den Einstieg in eine Genossenschaft ist damit eher niedrig.

Doch egal, wie viele Anteile man hält: jedes Mitglied hat nur eine Stimme. "Mit der Folge, dass finanzkräftige Teilhaber das Unternehmen nicht unter ihre Kontrolle bringen können", weiß Theurl. "Eine Genossenschaft ist eine demokratische Rechtsform und damit eine Alternative zu den Geschäftsmodellen, die durch ihre Kapitaldominanz in den letzten Jahren in die Kritik geraten sind", meint die Wissenschaftlerin. "Wer in ein Aktienunternehmen einsteigt, will eine möglichst hohe Rendite erzielen. Wer sich an einer Genossenschaft beteiligt, will Einfluss nehmen." Und eben das mache die Genossenschaften heute für viele Menschen so attraktiv.

Nach Angaben der UNO gibt es weltweit 800 Millionen Genossenschaftsmitglieder in mehr als 100 Ländern. Über 100 Millionen Arbeitsplätze werden von Genossenschaften bereitgestellt. Die Hälfte der Weltbevölkerung – so schätzt die UNO - findet ihre Ernährungsgrundlage in den Genossenschaften.

Morgen berichten wir über die Initiative von Bremer Genossen, die das Geschäft mit Energie in die eigene Hand genommen haben.

Gefeiert wird auch in Bremen

n Bereits seit 1923 gibt es den Internationalen Genossenschaftstag. Gefeiert wird er immer am ersten Sonnabend im Juli. Vor zwanzig Jahren hat ihn die UNO zum weltweiten Gedenktag erklärt. Unter dem Motto "Ein Gewinn für alle" sind diesmal am 7. Juli deutschlandweit zahlreiche Aktionen und Veranstaltungen geplant. In Bremen haben sich elf Genossenschaften zusammengetan, um an diesem Tag über ihre Initiativen zu informieren und die genossenschaftliche Idee im Rahmen eines öffentlichen Familienfestes auf dem Marktplatz zu feiern. Bürgermeister Jens Böhrnsen ist Schirmherr der Veranstaltung. Insgesamt gibt es in Bremen und Bremerhaven 32 eingetragene Genossenschaften, darunter Banken, Energiegenossenschaften, Handwerksgenossenschaften und Wohnungsbaugenossenschaften.

Zitat:

"Wenn der Einzelne zu

klein ist, dann gründet man eine Genossenschaft."

Theresa Theurl, Universität Münster

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