Rund 1800 Windkraftanlagen mit einer Gesamtleistung von 9000 Megawatt in der Nordsee sind bereits genehmigt. Doch der Aufbau der Windparks stockt. Greift die Bundesregierung jetzt nicht schnell ein, droht der Branche ein gewaltiger Rückschlag. Im schlimmsten Szenario rechnen Bremer Experten damit, dass nur 2700 Megawatt installiert werden. Der Verlust von Produktionskapazitäten und Arbeitsplätzen wäre die unausweichliche Folge.
Bremen. Als Hans-Joachim Otto, der maritime Koordinator der Bundesregierung, gestern per Helikopter zur ersten Bremer Offshore-Messe "Windforce 2012" einschwebte, hatte er gute Worte für die versammelte Windkraftbranche im Gepäck. Nicht aber einen sehnlichst erwarteten Gesetzesentwurf. Frühestens im August werde die Haftungsfrage beim Anschluss von Windparks an das Stromnetz neu geregelt, kündigte der FDP-Politiker an. Ursprünglich war von einem Termin vor der Sommerpause die Rede. Investoren und Windpark-Entwicklern rennt nun immer mehr die Zeit davon.
Neue Projekte können bei der Bundesnetzagentur nur zwei Mal im Jahr eingereicht werden, im März und im September. Der Energieversorger EnBW, der den bisher einzigen kommerziellen Windpark in der Ostsee betreibt, wollte jetzt eigentlich auch mit zwei Projekten in der Nordsee starten. Doch Stefan Thiele, Chef der Konzernsparte für erneuerbare Energien, fand gestern klare Worte: "Ohne Planungssicherheit gibt es bei uns keine Investitionsentscheidung." So denken auch andere.
Das für alle Nordsee-Projekte zuständige Netzbetreiber-Unternehmen Tennet kann die Stromanschlüsse nicht liefern. Fünf Windparks sollten in diesem Jahr errichtet werden. Doch die Inbetriebnahme des Windparks "Borkum West 2", geplant für Ende 2012, verschiebt sich bis zum zweiten Quartal des Folgejahres, teilte der Investor Trianel jetzt mit. Auch der Energieversorger RWE muss den Baustart des Windparks "Nordsee Ost" vor Helgoland um fast zwei Jahre verschieben. Andere wie EnBW treten vermutlich in diesem Jahr erst gar nicht mehr an – mit unmittelbaren Auswirkungen auf Bremerhaven. Denn von dort sollen die Turbinen und Fundamenten für den EnBW-Windpark geliefert werden, mit der Wirtschaftsförderung der Stadt wird über ein Baubüro mit bis zu 40 Arbeitsplätzen verhandelt.
Laut früheren Prognosen könnten sich bereits 3000 Windräder auf See drehen. Wegen die vielen ungelösten Probleme und ständiger Verzögerungen sind es bislang aber nur 55 Anlagen mit 215 Megawatt an Leistung. Im vergangenen Jahr kamen gerade einmal zehn Anlagen hinzu. Hauptproblem sind die fehlenden Stromanschlüsse. Tennet verweist auf fehlendes Kapital und Lieferengpässe. Investitionen von mehr als 5,5 Milliarden Euro hat der niederländische Netzbetreiber in den vergangenen beiden Jahren zugesagt – das Achtfache der eigenen Bilanzsumme. Mehr sei aus eigener Kraft und angesichts der geltenden Rahmenbedingungen nicht zu leisten, betonte Tennet-Chef Guido Fricke. Es wäre ein Verstoß gegen eine gesetzliche Verpflichtung, "aber wir können die Tennet-Leute deshalb ja nicht in den Schuldturm stecken", sagt Jörg Kuhbier, Vorstandschef der Stiftung Offshore. Die Branche fordert stattdessen seit Monaten von der Bundesregierung, das Haftungsrisiko beim verspäteten Stromanschluss neu zu verteilen und bessere gesetzliche Regelungen zu schaffen. Bislang vergeblich, obwohl seit März konkrete Vorschläge einer interdisziplinären Arbeitsgruppe "Beschleunigung" vorliegen. "Wir brauchen schnellstmöglich Klarheit", betonte Thomas Haukje vom Bremer Versicherungsunternehmen Nordwest Assekuranz. Denn noch, so heißt es in der Branche, seien die Offshore-Ziele zu schaffen. Wenn nicht bis 2020, dann bis 2022.
Die Experten des Bremer Marktforschungsinstituts Windresearch halten dies dagegen nur für möglich, wenn alle offenen Fragen tatsächlich schnell gelöst werden. "Dann könnten es noch 9000 Megawatt werden", sagt Geschäftsführer Dirk Briese. Doch selbst die Branche ist skeptisch. "Kaum ist ein Problem gelöst, tauchen zwei neue auf", hieß es gestern auf der "Windforce". Neben Netzanschlüssen fehlen auch Finanzierungsmodelle, Logistikkonzepte und Produktionskapazitäten für Umspannwerke und Seekabel.
Für wahrscheinlich hält Briese deshalb, dass höchstens 7200 Megawatt zu erreichen sind. Aber auch dafür müssten die nötige Infrastruktur, insbesondere die Offshore-Häfen, ausgebaut, die Leistung der Turbinen erhöht und eine deutliche Kostensenkung bei Produktion und Installation von Windkraftanlagen erzielt werden. Blieben die akuten Probleme dagegen ungelöst, würde der Offshore-Aufbau spätestens ab 2016 zum Erliegen kommen – bei einer installierten Leistung von lediglich 2700 Megawatt. Schlimmer noch: "Unternehmen, Schiffe, Arbeitsplätze und nicht zuletzt das Kapital würden ins Ausland abwandern", warnt Briese.
Noch aber hofft die Offshore-Branche auf einen Milliardenmarkt. 340 Windpark-Projekte listet eine aktuelle Karte der Bremerhavener Windenergieagentur WAB in Europa auf, allein die Vorhaben in der Nordsee machen drei Viertel des künftigen Weltmarktes aus. "Die Energiewende ist eine Chance, die mit Mut genutzt werden muss", sagte WAB-Chef Ronny Meyer.
Offshore zum Anfassen gibt es für die Öffentlichkeit morgen ab 9 Uhr beim Publikumstag einschließlich Jobbörse auf der "Windforce 2012" in den Messehallen 4 und 5 in Bremen.