In den vergangenen Jahren gab es für Bremens Wirtschaft oft gute Nachrichten. Das Wachstum der Hansestadt rangierte immer wieder über dem Bundesdurchschnitt. Der Rückblick zeigt jedoch, dass die gute Nachricht leider nicht mehr stimmt. Bremen erzielte 2015, 2016 und auch 2017 ein schwächeres Ergebnis als zunächst angenommen. Das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt (BIP), Gradmesser für das Wirtschaftswachstum, lag unter dem Bundesschnitt. Wie aber kam die Fehlannahme zuvor zustande?
Verantwortlich für die Zahlen ist der Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder“. Ihm gehören alle Statistischen Landesämter an – auch Bremen. Die Berechnung des BIP vollzieht sich dabei in drei Schritten und dauert entsprechend: Für das Jahr 2020 wird mit der sogenannten Originärberechnung im März 2023 das genaue Wirtschaftswachstum der Länder vorliegen.
Zunächst gibt es jedoch eine erste Fortschreibung: Im März des Folgejahres berechnet Bayern das BIP, und zwar für alle Bundesländer. Die notwendigen Daten liegen zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht komplett vor. Es gibt zwar Umsatzzahlen, doch genaue Vorleistungen, die zur Bestimmung nötig sind, fehlen beispielsweise.
Im Jahr darauf folgt eine zweite Fortschreibung des BIP, die einen größeren Kranz an Indikatoren berücksichtigt und damit genauer ist. Und wieder ein Jahr später liegen die Originärberechnung vor und damit verlässliche Ergebnisse. Das BIP wird also auf einem immer breiteren Datenfundament überarbeitet.
Revisionen gehören somit zum Alltag des Arbeitskreises. Doch warum fallen die Unterschiede für Bremen so deutlich aus? Das liegt an der Größe, erklärt Andreas Cors, im Statistischem Landesamt Bremen Abteilungsleiter für Wirtschaft: In größeren Einheiten glichen sich Schwankungen leichter aus. Das Wirtschaftswachstum für Deutschland lässt sich darum früher präziser bestimmen. Schwieriger seien dagegen kleinere Bundesländer, sagt Cors. Wenn sich dort gewichtige Wirtschaftsbereiche veränderten, in Bremen der Automobilsektor, schlage sich das deutlicher nieder.
Konzerne wie Mercedes, Airbus oder Arcelor-Mittal spielen für Bremens Wirtschaft dabei eine überproportional wichtige Rolle, sagt der Ökonom Jan Wedemeier vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) in Bremen. Der Anteil an kleineren und mittleren Unternehmen falle dafür relativ geringer aus. Bremens Wirtschaft spürt deshalb genau, wie es Mercedes, Airbus und dem Stahlwerk geht. Gerade im verarbeitenden Gewerbe gibt es laut Wedemeier immer größere Revisionen.
Im Fall von Bremen lagen die Unterschiede zwischen Fortschreibung und Originärberechnung bei um die 2,0 Prozentpunkte. Wenngleich die Fortschreibungen also mit Vorsicht zu genießen sind, gerade in den kleinen Ländern, sind die frühzeitigen Berechnungen laut Andreas Cors von Bedeutung. Die Politik brauche die Zahlen, um Entscheidungen treffen zu können, und es gebe ein öffentliches Interesse daran. Die Arbeit sei wichtig: „Statistik ist nicht alles, aber ohne Statistik ist alles nichts.“
Je kleiner die Wirtschaftseinheit, desto schwerer die Prognose. Diese Formel fällt Klaus-Heiner Röhl vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) beim Blick auf die Revisionen ebenfalls sofort ein: „Für Bremen ist davon auszugehen, dass die Zahlen einzelner größerer Arbeitgeber das Gesamtergebnis schon deutlich beeinflussen können.“ Warum aber die Fortschreibung immer viel positiver ausfiel? Das kann sich Röhl nicht ganz erklären: „Die Abweichungen sollten in beide Richtungen gehen.“
Triebfeder für neue Arbeitsplätze
Es handle sich schon um recht starke Herabrevisionen. Das BIP in Bremen sei zwar nicht eingebrochen, aber stagniere eher, sagt Röhl. Was bedeutet das überhaupt für die Menschen vor Ort? Röhl zufolge wirkt sich das vor allem auf die Beschäftigung aus, denn Wirtschaftswachstum sei die Triebfeder für neue Arbeitsplätze. Seit der Wirtschaftskrise sei die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um ein Fünftel gestiegen. „Das ist eine recht deutliche Zahl.“ Ein höheres Bremer BIP hätte auch für den Arbeitsmarkt einen positiven Effekt gehabt.
Für Friso Schlitte, der bei der Handelskammer Bremen für Statistik zuständig ist, steht die Sache noch in einem anderen Zusammenhang. Schließlich sei das Ziel der Politik, dass Bremen eine wachsende Stadt sei. Das BIP werde dabei gerne als Erfolgsfaktor herangezogen. „Wir haben eine positive Entwicklung gehabt“, sagt auch der Konjunkturexperte. Doch man könne sich angesichts der Revisionen nicht ganz so auf die Schulter klopfen, findet Schlitte. In Bremen sei die Wirtschaft deutlich früher abgeflaut, was die Handelskammer auch in ihren Konjunkturumfragen wahrnahm.
Und Schlitte sieht nicht nur hier noch Luft nach oben, um die Vision der wachsenden Stadt Bremen zu erreichen. Bremen habe weniger neue Fachkräfte angezogen als vorgesehen. Die seien für die Innovationskraft und Dynamik eines Standorts aber wichtig. Viele Bremer seien dagegen ins Umland gezogen, was Einbußen bei den Steuern bedeute.
„Bremen hat bei der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Bundesländern nicht weiter aufgeholt“, kommentiert Jan Wedemeier vom HWWI die Entwicklung des Wachstums. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 wuchs Bremens preisbereinigtes BIP 2010 (5,0 Prozent) und 2012 (3,0 Prozent) überdurchschnittlich. Niedersachsen konnte in diesem Zeitraum öfter besser abschneiden.
Torben Klarl, der an der Uni Bremen eine Professur für Volkswirtschaftslehre innehat, sieht für Bremen vor allem wegen der starken Abhängigkeit vom Export Unsicherheiten. Denn externe Schocks, wie die Handelsunruhen zwischen den USA und China, hätten schwer absehbare Folgen für die hiesige Wirtschaft. In diesem Jahr dürften vor allem die Einbrüche wegen Corona die Fortschreibung des BIP für Bremen erschweren. Wie genau? Das zeigt der März 2023.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) umfasst den Wert aller innerhalb eines Wirtschaftsgebietes während einer bestimmten Zeit produzierten Waren und Dienstleistungen und wird als Maßstab fürs Wirtschaftswachstum eines Landes oder einer Region herangezogen. Vorleistungen werden dabei abzogen, also Güter und Dienstleistungen, die im Produktionsprozess verbraucht, umgewandelt oder verarbeitet werden. Der Volkswirtschaftler Torben Klarl von der Universität Bremen erklärt die Vorleistung am Beispiel eines Laufrads für seine Tochter: Der Hersteller des Laufrads kauft vielleicht Komponenten wie die Räder und das Holzgestell ein. Das Laufrad wird dann ins BIP eingerechnet, die Räder und das Holzgestell aber als Vorleistungen abgezogen. Die Originärberechnung des Bruttoinlandsprodukt ist eine Gemeinschaftsaufgabe, denn die Bundesländer kümmern sich jeweils um die Bruttowertschöpfung eines Teils der Wirtschaft. „Die Ergebnisse werden dann unter Federführung Baden-Württembergs zusammengeführt“, sagt Andreas Cors vom Statistischen Landesamt Bremen. Sein Haus ist etwa für Verkehr und Lagerei sowie Information und Kommunikation zuständig.