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Lebensmittelhandel Umweltbundesamt setzt sich für mehrbeinige Mohrrübe ein

Das Umweltbundesamt und die Verbraucherzentralen fordern den Handel auf, mehr optisch nicht der Norm entsprechendes Obst und Gemüse zu verkaufen. Doch am Papier gibt es Kritik.
07.02.2022, 00:00 Uhr
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Umweltbundesamt setzt sich für mehrbeinige Mohrrübe ein
Von Peter Hanuschke

Die mehrbeinige Mohrrübe dient häufig als Beispiel, wenn es um Gemüse oder Obst geht, das es aus optischen Gründen nicht zum Verbraucher schafft. Geht es nach dem Umweltbundesamt und den Verbraucherzentralen, dann sollte solch ein Exemplar und sollten auch andere äußerlich verunglückte Gemüsesorten regelmäßig in den Verkauf gehen. Deshalb fordern sie vom Handel für Äpfel, Möhren und Co. mehr Natürlichkeit. Aus Sicht des Deutschen Fruchthandelsverbandes werden dagegen mit dieser Forderung Tatsachen verdreht. Sie zeuge von fehlender Sachkenntnis. Für Lebenseinzelhandelsketten gebe es überhaupt keinen Handlungsbedarf: "Grundsätzlich orientieren wir uns bei der Auswahl von Obst und Gemüse für unsere Märkte ausschließlich an den gesetzlich vorgeschriebenen Handelskriterien", sagt beispielsweise ein Sprecher von Aldi.

Laut Umweltbundesamt und den Verbraucherzentralen belasten strenge Vorgaben des Handels an das Aussehen und die Größe von Obst und Gemüse die Umwelt. Denn häufig müssten dafür zusätzlich Pflanzenschutz- und Düngemittel eingesetzt werden. Außerdem entstünden unnötige Lebensmittelverluste.

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„Manchmal ist es schon erstaunlich, zu welchen neuen Erkenntnissen Institutionen wie das Umweltbundesamt oder die Verbraucherzentralen kommen, auch wenn die mit der Realität nichts zu tun haben", kommentiert derweil Andreas Brügger, Geschäftsführer des Deutschen Fruchthandelsverbandes die Kritik. "Anforderungen an Aussehen oder Größe werden durch die gesetzlichen EU-Vermarktungsnormen definiert, nicht durch irgendwelche Vorgaben des Handels", so Brügger. "Pflanzenschutzmittel werden nicht zur Veränderung des Aussehens entwickelt, sondern schützen die Pflanze vor Krankheiten und Schaderregern." Mit Düngemitteln gebe man dem Boden die Nährstoffe, die Pflanzen zum Wachstum bräuchten.

Die Rewe Group engagiert sich nach eigener Aussage seit Jahren sowohl gegen Lebensmittelverschwendung als auch für die Wertschätzung von Lebensmitteln. Man pflege als langjähriger Partner ein enges Verhältnis zu den Lieferanten und Direktvermarktern. Dazu gehöre auch, dass Rewe und Penny unter dem Dach der Rewe Group mit Sondervermarktungen von beispielsweise Äpfeln mit Hagelschäden ihre Erzeuger bei witterungsbedingten Ernteschäden unterstützen, so Sprecher Thomas Bonrath auf Nachfrage des WESER-KURIER. "Seit April 2016 vermarktet Penny zudem unter der Eigenmarke Naturgut Bio-Helden Bio-Obst und -Gemüse mit kleinen Schönheitsfehlern, um auf eine stärkere Wertschätzung von Lebensmitteln aufmerksam zu machen."

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Unter dem Titel "Mehr Natürlichkeit im Obst- und Gemüseregal – gut für Umwelt und Klima" hat das Umweltbundesamt Empfehlungen zur Senkung handelsspezifischer Vorgaben herausgegeben. Das sei eine Lektüre, bei der man sich fragen müsse, weshalb das Umweltbundesamt nicht die Expertise der verschiedenen Landwirtschaftsministerien darin berücksichtigt habe, sagt Rudolf Behr, Vorstandsvorsitzender der Behr AG mit Hauptsitz in Seevetal, auf Nachfrage. Behr selbst bezeichnet sich als Gemüsebauer, der im Freiland und im Boden biologisches Verbandsgemüse sowie konventionelles Gemüse anbaut. Als europaweit agierende Firmengruppe in der Gemüseproduktion baut die Behr AG nach eigenen Angaben rund 4.000 Hektar Freilandgemüse an, davon über 400 Hektar nach ökologischen Richtlinien.

"Diese Lektüre ist ein Produkt von fehlender Sachkenntnis – so etwas ärgert mich", sagt Behr. Dort stehe unter anderem, dass bei Obst und Gemüse oft zusätzliche Pflanzenschutz- und Düngemittel eingesetzt werden müssten, damit es besonders frisch und makellos aussehe. Mit Aussehen habe das gar nichts zu tun, so auch Behr. Gemüse, das in natürlichem Boden angebaut werde, benötige eine hohe Sensibilität seitens des Produzenten, was die Bedürfnisse der Pflanzen und deren Versorgung angehe, um einen hohen Ertrag an verzehrbarer Masse zu ernten – und das mit möglichst geringem Ressourcenverbrauch an Boden und Fläche, Dünger, Wasser und Pflanzenschutzmitteln. "Diese Regel gilt für den Bio-Anbau und den konventionellen Anbau gleichermaßen."

Die auf der Titelseite abgebildete mehrbeinige Möhre, die zeigen soll, dass auch diese Formen verwertbar sind, zeugt laut Behr "von gefährlicher Unkenntnis". "Ja, es ist richtig, diese Möhren können verzehrt werden", so der Gemüsebauer. Allerdings habe derjenige, der solche mehrbeinigen Mohrrüben ernte, die Regeln der Fruchtfolge verletzt. Möhren dürfen laut Behr nur alle fünf bis sieben Jahre auf dem gleichen Feld angebaut werden. In der Zeit dazwischen dürften keine sogenannten Umbelliferen wie Fenchel, Sellerie oder Petersilie angebaut werden, sondern nur andere Arten. "Wer das nicht beachtet, erntet mehrbeinige Möhren. Eine Fruchtfolgesünde, die nichts mit fachlicher Praxis und gesundem Boden zu tun hat."

Zur Forderung nach mehr Vermarktung von Ware zweiter Klasse sagt Behr, dass das bei Lagergemüse machbar sei und auch umgesetzt werde. "Beim Frischgemüse ist diese Forderung eine Katastrophe und für jeden Gemüsebauer ein Horror. Wir können die geringen Mengen an verunglückten Produkten nicht lagern, um eine adäquate Menge zusammenzustellen, die eine Aktion des Lebensmittelhandels bedienen kann." In Ausnahmen würden solche Lieferungen stattfinden, allerdings aufgefüllt zu 95 Prozent mit Ware erster Klasse, aber insgesamt zu einem niedrigen Preis. Das rechne sich natürlich gar nicht. So sagt Behr: "Bitte verschont uns damit, diesen Bereich noch weiter ausbauen zu müssen. Lieber gebe ich die Produkte der Tafel oder den Regenwürmern. Bei den Möhren sind die Pferde auch dankbar."

Aldi weist darauf hin, dass das Unternehmen auch mit zahlreichen Obst- und Gemüseartikel handelt, die nicht der Handelsklasse 1 entsprechen. "Darüber hinaus haben wir auch weitere Vertriebskanäle für Obst und Gemüse geschaffen, die nicht den geltenden Klassen entsprechen", so der Aldi-Sprecher. Wie Rewe bietet Aldi beispielsweise „Wetteräpfel“ an – also Äpfel, die unter extremen Wetterereignissen gelitten haben.

Zur Sache

Selten im Angebot

Laut der Studie des Umweltbundesamtes wurden nur rund ein Viertel der angebotenen Äpfel und 18 Prozent der Möhren in Klasse II, also mit optischen Makeln und verschiedener Größe, angeboten. In Discountern sei dieses Angebot – im Vergleich zu Supermärkten und Biomärkten – noch geringer gewesen. "Kohlrabi, Blumenkohl, Eisbergsalat und Brokkoli wurden fast ausschließlich zum Stückpreis statt nach Gewicht angeboten", heißt es. Eine Verkaufspraxis, die wenig Anreiz biete, auch zu kleinerem Gemüse zu greifen.

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