Ob halb zwei mittags oder halb zwei nachts: Rund um die Haltestelle Sielwall ist immer was los. Vor allem am Wochenende, wenn die angesagte Szenemeile viele junge Leute auch aus dem Umland anlockt. Und Gedränge herrscht besonders, wenn Werder Bremen ein Heimspiel hat und stundenlang Pulks von Fußballfans durchs Viertel ziehen.
Drei Straßenbahnlinien haben die Haltestelle Sielwall auf dem Fahrplan, neben der 2 auch die 3 und 10. Täglich steigen bei der 2 und 3 jeweils etwa 1400 Menschen an dieser Haltestelle ein oder aus, bei der Linie 10, die den Hauptbahnhof ansteuert, sind es im Durchschnitt noch 500 mehr, wie der Sprecher der Bremer Straßenbahn AG (BSAG), Andreas Holling, berichtet.
Ist der Sielwall eine besondere Haltestelle? Von Straßenbahnfahrern hört man auf diese Frage unterschiedliche Antworten. Diejenigen, die schon seit Jahrzehnten im Viertel unterwegs sind, haben sich an die Verhältnisse mit lautstarken Betrunkenen am Wochenende sowie mit Drogendealern und Rangeleien im Straßenbild gewöhnt. „Die schlimmste Haltestelle in Bremen ist es jedenfalls nicht“, sagt eine Straßenbahnfahrerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Das sei vielmehr die Haltestelle Lindenhof in Gröpelingen: „Dort werden sehr häufig gar keine Regeln beachtet.“
Im Viertel nervten am meisten Fahrradfahrer, die mit einer Bahn im Nacken unruhig würden und sich panisch verhielten. „Wenn sie ganz normal weiterfahren würden, wäre allen geholfen“, sagt die Straßenbahnfahrerin. Einer ihrer jüngeren Kollegen räumt ein, dass die Haltestelle schon hin und wieder eine Herausforderung sei, weil Betrunkene randalierten oder andere Fahrgäste anpöbelten. „Man ist froh, wenn es einigermaßen ruhig bleibt“, sagt er.
Stefan Broschei steht mit einem Feierabendbier in der Hand direkt neben der Haltestelle an einem Stehtisch des Viertelkiosks. Der 35-Jährige kam vor zehn Jahren aus Cuxhaven nach Bremen und fand eine Wohnung am Sielwall. „Das Viertel kannte ich überhaupt nicht, es war Zufall, dass ich hier gelandet bin“, erzählt er. „Heute möchte ich hier nicht mehr weg.“ Die negativen Seiten der Amüsiermeile nimmt Broschei in Kauf. „Nach dem Wochenende muss ich die Haustür immer ganz vorsichtig öffnen“, berichtet er.
„Manchmal schläft im Eingang jemand seinen Rausch aus, manchmal liegen dort Essensreste oder auch Erbrochenes.“ Das Miteinander der Viertelbewohner sei jedoch klasse. Nach Arbeitsschluss bei einer Isolierfirma gönnt sich Stefan Broschei oft einen Ausklang beim Viertelkiosk an der Haltestelle. Dann kommen meist andere Bewohner für einen kleinen Plausch hinzu. So ist eine Art Open-Air-Stammtisch vor dem Kiosk entstanden.
Genau gegenüber arbeitet seit sieben Jahren Sandra Cendon als Servicekraft im Restaurant Daheim. „Hier an der Haltestelle gibt es viel Action, und vor den Kneipen in der Nähe gehören Schlägereien an manchen Wochenenden dazu“, sagt sie. Andererseits gebe es ein herzliches Miteinander der Viertelbewohner. „Direkt hier an der Meile wohnen möchte ich jedoch nicht, erst recht nicht mit Kindern“, erklärt sie. Einige Straßen weiter fühle sie sich aber sehr wohl. „Zum Glück bin ich Mieterin bei einer Wohnungsbaugesellschaft, ansonsten haben die Mieten im Viertel eine immense Höhe erreicht“, berichtet Sandra Cendon.
Ein paar Häuser neben dem Restaurant Daheim hat Harald Lührs sein Geschäft „Teehaus und Café Buddhawelt“ – seit 31 Jahren schon. „Mit den vielen Friseurgeschäften, Bäckerläden und Kiosken hat sich das Viertel verändert“, stellt er fest. „Aber es ist nach wie vor lebendig, und das gefällt mir. Ich halte hier durch!“ Er wohnt über seinem Geschäft, an den Lärm an den Wochenenden habe er sich gewöhnt. Seine Kundschaft sei gemischt, aber überwiegend seien es junge Leute. Die vor fünf Jahren eingerichtete Teestube mit einigen Plätzen auch vor dem Haus kommt gut an.
Ein überzeugter Viertel-Geschäftsmann „aus ganzem Herzen“ ist auch Jens Schumacher, Geschäftsführer von Art'n Card, Geschäft für Poster, Kunstdrucke und Rahmen, beliebt aber vor allem für seine riesige Auswahl an originellen Postkarten. Der Besucherstrom im Viertel sei groß, erst recht, wenn besondere Veranstaltungen wie das alljährliche Event „Offene Ateliers“ geboten würden. „Es ist Wahnsinn, wie groß dann der Zulauf ist“, sagt Schumacher.
Besseres Bild als früher
Im Coffee Corner am Eck sitzt Robert Bücking, beobachtet das quirlige Treiben vor dem Fenster und lässt seine Erinnerungen ans Viertel und die Krawalle auf der Sielwallkreuzung Revue passieren. 20 Jahre war er Viertelbürgermeister. Der frühere Leiter des Ortsamtes Mitte/Östliche Vorstadt findet, dass sich die Geschäftsmeile positiv entwickelt hat und es schafft, sich in Teilen immer wieder neu zu erfinden.
Wer sich heute über den Drogenhandel, den Unrat nach Feierwochenenden und den Lärm auf der Partymeile beschwere, habe verdrängt, dass die Zustände früher viel schlimmer gewesen seien. „In vielen Hauseingängen übernachteten Junkies und Obdachlose, die auch tagsüber das Bild prägten, und überall lagen Spritzen herum“, sagt Bücking. Durch Betreuungsangebote für Drogensüchtige und das Methadon-Programm habe das Problem entschärft werden können. Insgesamt biete sich heute ein besseres Bild als in den 80er- oder 90er-Jahren.
Umstritten ist im Viertel weiter die Aufhebung der Konzessionssperre 2006, die Bücking mitgetragen hat und auch heute verteidigt. „Wäre die Sperre geblieben, hätten wir nun beträchtlichen Leerstand und die Attraktivität für Bremer und Butenbremer wäre sicher nicht so hoch“, meint der Grünen-Politiker.