Ein Blick nach links, dann nach rechts – schon überqueren Fußgänger und Radfahrer die Balgebrückstraße. Sie weichen Bussen, Straßenbahnen, entgegenkommenden Menschen und wartenden Fahrgästen auf den Verkehrsinseln aus. Ein „Entschuldigung“ ist hier zu hören, ein „Gibt’s ja nicht“ dort. Belebt und chaotisch – so könnte man die Szenen am besten beschreiben, die sich an der Haltestelle Domsheide täglich abspielen, selbst in den Sommerferien.
Neben dem Hauptbahnhof ist die Domsheide der zentrale Verkehrsknotenpunkt in Bremen. Fünf Straßenbahnlinien und die Buslinien 24 und 25 halten dort. Allein auf der Linie 2 steigen an der Domsheide täglich im Schnitt rund 4300 Fahrgäste ein und aus. Die Haltestelle der Linie 2 liegt direkt vor dem Hauptpostamt an der Domsheide. Fahrgäste, die umsteigen wollen, müssen um die Ecke zur Balgebrückstraße hetzen. Denn dort liegen die restlichen Haltestellen. Es ist ein rastloses Hin und Her, ein gekonntes Ausweichspiel mit einer beständigen Lärmkulisse.
Von außen dringt der Straßenlärm nur gedämpft in Adnan Cetinels kleines Geschäft hinein. Der Laden ist ein Ruhepol inmitten des Trubels der Domsheide. Cetinel beobachtet die Menschen, die ein- und aussteigen. Die Bushaltestelle befindet sich direkt vor seinem Laden „Speedy“ in der Balgebrückstraße.
Eine junge Frau steht rauchend vor dem Geschäft, sie hält mehrere Einkaufstüten in der Hand. Der Bus hält. Schnell wirft sie die Zigarette auf den Boden und steigt in den Bus ein. Cetinel senkt seinen Blick, wendet sich wieder seiner Arbeit zu: Er schleift an der Sohle eines Herrenschuhs. Der 53-Jährige ist Schuster. 1992 ist Cetinel aus der Türkei nach Bremen gekommen. Seit 17 Jahren ist er Inhaber von „Speedy“, einem Schuh- und Schlüsselservice. „Die Menschen wollen immer alles schnell, schnell, schnell – gerade hier an der Domsheide“, sagt Cetinel. Das ist auch der Grund, warum er den Laden „Speedy“ – „Schnell“, getauft hat.
Störende Baustellen
In den Regalen liegen Sohlen und Schuhe. Schilder, Ledergürtel und Schlüssel hängen an der Wand. Auch Batterien, Uhren und Regenschirme verkauft Cetinel. „Nur als Schuster zu arbeiten, reicht heute nicht mehr aus“, sagt er. Erst mithilfe der vielen kleinen Nebenarbeiten komme er über die Runden.
Er arbeitet zehn Stunden täglich, von 8 bis 18 Uhr. Auch am Sonnabend ist er im Laden. Eine Mittagspause macht er nicht. Und auch Urlaube sind eher selten. „Meine Frau und meine drei Kinder finden das nicht sehr gut“, sagt Cetinel. Vor einigen Jahren hatte er noch einen Mitarbeiter. Da konnte man sich abwechseln. Doch das Geld reicht dafür nicht mehr. Nun ist er alleine. „Wenn ich heute Urlaub mache, ist gleich der ganze Laden dicht“, sagt er.
Die Kunden sind in den vergangenen Jahren immer weniger geworden. Viele lassen ihre Schuhe nicht mehr reparieren. „Die kaufen sich lieber neue billige Schuhe“, sagt Cetinel. Die Lage seines Geschäfts sei eigentlich gut, viele Menschen kommen vorbei. Cetinel stört nur eine Sache: die Baustellen. „Ständig wird hier gebaut. Dann ist es sehr laut, und oft kommen die Kunden dann nicht mehr in meinen Laden.“ 2020 ist es wieder soweit. Dann soll der große Umbau der Domsheide beginnen.
Sobald man Cetinels Laden verlässt, kommt einem erneut der Trubel der Domsheide entgegen. Eine ältere Frau steht mit ihrem Rollator auf der Verkehrsinsel. Die Straßenbahn der Linie 4 Richtung Borgfeld hält, öffnet ihre Türen. Die Seniorin möchte einsteigen. Vorsichtig hievt sie den Rollator in die Bahn. Ein Mann hilft ihr beim Einsteigen.
Kaum ist sie in der Bahn, piepen die Türen und schließen. Es muss eben „schnell, schnell, schnell“ gehen, wie Cetinel gesagt hat. Geht man die Balgebrückstraße weiter, findet man einen weiteren Ort, an dem das Ausweichspiel der Fußgänger, Fahrradfahrer, Busse und Straßenbahnen schnell in Vergessenheit gerät: die Buchhandlung Geist. Filialleiter Horst Baraczewski steht an der Kasse. Eine ältere Frau holt ein Buch ab, das sie bestellt hat. Eine weitere Kundin steht vor einem Regal, liest sich die Titel durch. Es ist wenig los.
„Ferienzeit“, sagt Baraczewski. Seit 1992 arbeitet er in der Buchhandlung. Vor sieben Jahren ist das Geschäft vom Wall an die Domsheide gezogen. „Es ist vielleicht keine schöne Ecke, aber es gibt viel Laufkundschaft“, sagt Baraczewski. „Wir haben mit der Domsheide praktisch einen eigenen Bahnhof vor der Tür. Hier ist immer etwas los.“ Baraczewski tritt vor die Tür der Buchhandlung. Er blickt auf das weiße Parkhaus, „ein Autogefängnis“, nennt er es.
Jeden Tag halten dort Reisebusse, viele Touristen strömen von dort in die Innenstadt. „Wenn die aussteigen, müssen die sich doch denken: Wo bin ich hier gelandet?“, sagt Baraczewski. Die Balgebrückstraße ist seiner Meinung nach eine der hässlichsten Straßen in der Innenstadt.
„Im Vergleich zur restlichen Altstadt ist es hier sehr lieblos, kalt.“ Der Filialleiter plädiert für eine autofreie Innenstadt. „Dann wären auch die Parkhäuser unnötig.“ Man müsse seiner Meinung nach die Stadt neu denken.
Er wünscht sich unter anderem einen Platz an der Domsheide, auf dem Menschen zusammenkommen können, „eine Piazza mit Springbrunnen und Bänken.“ Die Domsheide wäre dann nicht nur ein rastloses Hin und Her zum Ein-, Aus-, und Umsteigen. „Es wäre ein Ort der Begegnung, an dem man auch gerne verweilt, nicht nur vorbeihetzt“, sagt Baraczewski. „Das macht doch das Leben in der Stadt aus.“