Das mutigste Tier der Welt ist der Honigdachs. Einer, der Giftschlangen und Löwen anfällt und Krokodile zum Frühstück verspeist. Mit Zähnen und Klauen verteidigt er seit Jahrzehnten seinen Platz im Guinnessbuch der Rekorde. Millionenfach geklickte Videos zeugen davon, wie schnell so einer aus seiner dicken Haut fährt. Er weiß genau, wo es wehtut, und verhält sich auch so. Investmentbanker feiern ihn: So ein Honigdachs hat keine Komfortzone. Aber eben auch kaum Freunde. Zum Idol taugt er daher nur bedingt – so gerne Menschen keine Memmen wären.
Was wir an guten Tagen Zivilisation nennen und an schlechten Tagen beschwören, ist undenkbar ohne Vertrauen, ohne den Mut, sich zu entwaffnen und auf andere zuzugehen. Je stärker eine Kultur von Gewalt oder Narzissmus geprägt ist, desto schwerer ist diese Einsicht zu vermitteln. Im Kaiserreich wurde, wer für den Frieden eintrat, sozial geächtet, wenn nicht sogar inhaftiert. Spazierte die Bremer Sozialpolitikerin Auguste Kirchhoff durchs Fesenfeld, wechselten manche Leute die Straßenseite. Unerhört war nicht nur ihr Kampf für Frauenrechte, für Mutterschutz und eine andere Sexualmoral, unerhört waren vor allem auch Sätze wie diese angesichts des vaterländischen Kriegstaumels: "Wie entsetzlich, bis gestern hielt ich's für unmöglich, daß irgend jemand mit frevler Hand die Funken ins Pulverfass Europa werfen würde. Ich stehe ja wohl mit meinen Ansichten ganz allein, und man hat mir gesagt, ich solle sie gefälligst für mich behalten, aber für mich ist der Krieg Massenmord, ein Verbrechen, und der ihn herbeiführt, ein Verbrecher.”
Courage ist erlernbar
Während der Straßenbahnunruhen 1968 in Bremen, als der Polizeipräsident Jugendliche niederknüppeln ließ, war es die stellvertretende Bürgermeisterin, die auf eine Streusandkiste stieg, um mit den jungen Leuten zu reden. Ihr Auftritt verschaffte Annemarie Mevissen Sympathien, aber eben auch den zweifelhaften Titel, der „einzige Mann im Senat“ zu sein. In Berlin lehrte eine andere Bremerin Sicherheitsbeamte das Fürchten: Hilda Heinemann, geborene Ordemann, die Frau des Bundespräsidenten, ging in besetzte Häuser und suchte das Gespräch.
Weil Mut nicht angeboren, sondern erlernbar ist, braucht er solche und andere Vorbilder. Der Schweizer Rundfunk hat seinen Zuschauerinnen und Zuschauern 13 Menschen aus aller Welt vorgestellt, "die mutiger waren als Sie", die gewaltlos gekämpft haben, und nicht für sich selbst wie der Honigdachs, sondern für höhere Werte wie Freiheit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Frieden oder Demokratie, gegen Rassismus und Fundamentalismus. Mahatma Gandhi ist dabei, Anna Politkowskaja, Carl von Ossietzky, die Geschwister Scholl, Aung San Suu Kyi, Rosa Parks, Nelson Mandela, Martin Luther King, Salman Rushdie, Edward Snowden, Malala Yousafzai und der "Tankman" (Panzermann), ein Mann, der sich in Peking dem Militär in den Weg stellte. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist. Die anderen Zwölf haben mit ihrer Freiheit, ihrer Gesundheit oder mit ihrem Leben für ihren Mut bezahlt.
Und das ist die Krux dabei: Je mehr wir solchen außergewöhnlichen Mut bewundern, desto weniger suchen wir ihn bei uns selbst. Zu riesig sind solche Fußstapfen, zu furchtbar das Opfer. Wobei selbst den größten Jammerlappen klar ist: Auch Kleinmut ist riskant. Er geht auf Kosten der Selbstachtung, langfristig auch der Freiheit. Letztlich kann nur die Angst vor der eigenen Courage Menschen davon abhalten, für eine gute Sache einzutreten, die innere Stimme, die fragt: „Echt jetzt? Hast du dir das auch wirklich gut überlegt?“ Sich selbst zu entmutigen, kann schnell zum Volkssport werden. Mit Mutlosen aber ist kein Staat und keine Revolution zu machen, weder ein Krieg noch der Klimawandel zu stoppen.
Zum Mutmuskeltraining laden deshalb die „Radikalen Töchter“ ein, eine Berliner Aktionskunstgruppe, die Workshops für die junge Generation anbietet. Ihr immerwährender Kalender ist der "Mutplaner" für Projekte unter anderem zu Menschenrechten und Klimaschutz. Provozieren, auffallen, Demokratie mitgestalten, „legalen Stress“ verbreiten, das wollen sie nicht den Rechten überlassen, nicht denen, die anderen den Schneid abkaufen.
Zwischen den großen Mutspuren dieser Welt ist Platz für die Fußstapfen so vieler stiller Heldinnen und Helden wie die der NS-Zeit, für die es in Berlin eine Gedenkstätte und in Bremen und Niedersachsen ein Bildungsportal gibt. Weil im Alltag Mut dazu gehört, Tabuthemen anzusprechen und anderen Mut zu machen, ist Marie Rösler von der Bremer Krebsgesellschaft ausgezeichnet worden. Solche Ehrungen erkennen an, dass sich Mut nicht erzwingen lässt. Die meisten Menschen ahnen nicht einmal, wozu sie fähig sind, wenn es gilt. Der Mut der Verzweiflung kann ungeahnte Kräfte entfesseln.
Wäre Tieren bewusst, was Mut ist, hätte selbst der Honigdachs Respekt vor einem zarten Schmetterling, dem Wiesenknopf-Ameisenbläuling. Seine Raupen lassen sich von ihrer Blume, dem Wiesenknopf, fallen und tarnen sich mit Duftstoffen als Ameisenlarven. Falls Ameisen sie finden und in ihren Bau tragen, bleiben sie dort bis zum Schlüpfen. Kurz bevor ihre Tarnung auffliegt, müssen sie wieder im Freien sein.
Mut ist eine erneuerbare Energie, die keine Garantien kennt. Mut kann uns verlassen, gerade dann, wenn wir ihn am meisten brauchen. Er kann zu Hochmut werden, ohne dass wir es merken. Aber auch zu Übermut: „Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis.“ Und Mut setzt Wissen voraus – diese Einsicht verdanken die einen den Kinderbüchern von Astrid Lindgren und andere den griechischen Philosophen der Antike. Nur wer eine Gefahr nicht erkennt, braucht keinen Mut, weshalb sich der Bremer Bert Trautmann ungern als Held feiern ließ. „Hätte ich gewusst, wie schwer meine Verletzung wirklich ist, wäre ich sofort rausgegangen", sagte der Torhüter, der einen Genickbruch erlitten hatte. "Ich wollte doch weiterleben.“
Beim Heranwachsen und Immer-älter-Werden sammeln Menschen Erfahrungen, lernen, Risiken einzuschätzen, und entwickeln die eine oder andere Taktik, um Krisen zu überstehen. Je weniger Mut dafür nötig ist, desto friedlicher das Zusammenleben. Ein Tag ganz ohne Mut aber ist ein trauriger Tag, denn was wäre das Dasein ohne die kleinen und großen Herausforderungen, ohne ein bisschen Nervenkitzel? Sich etwas getraut zu haben, ist ein Stück vom Glück, stärkt das Selbstwertgefühl und den Lebensmut.
Und das sogar in einem Land, in dem drei ermutigende Worte genügen, um massenhaften Unmut auszulösen: "Wir schaffen das.“ Drei andere Worte sind weltweit Ausdruck des Protestes gegen die Mullahs im Iran: „Frauen! Leben! Freiheit!“ hat Narges Mohammadi auch ihr Buch genannt, ihren Bericht aus einem iranischen Hochsicherheitsgefängnis. Am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, wird ihr in Oslo der Friedensnobelpreis verliehen, und zwar in Abwesenheit, da sie weiter in Haft ist. Wie der Preisträger von 2022, Ales Bjaljazki aus Belarus.
Wahrheit und Illusion
Die höchste Auszeichnung, die die Bundeswehr zu vergeben hat, ist seit 2008 das Ehrenkreuz für Tapferkeit. Es wird dienstgradübergreifend verliehen wie einst das Eiserne Kreuz, das in den Vierzigern in so vielen Todesanzeigen abgebildet war. Beim Besuch der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, der Uni der Bundeswehr, hat der Berufsoffizier und Bundestagsabgeordnete Johannes Arlt 2023 die Parole "Schnell und mutig vor langsam und gründlich" für das Beschaffen von Waffen ausgegeben. Das ist die Sorte Mut, von der Rüstungsfirmen und ihre Zulieferer profitieren, auch Atlas Elektronik, Airbus, OHB, die Lürssen-Werft, Abeking und Rasmussen, Rheinmetall und Saab, der Konzern, der Kampfjetteile in Bremen bauen will. Was Auguste Kirchhoff einmal mehr zu dem Kommentar veranlasst hätte, Rüstung als Schutz sei Illusion.
Die ultimative Mutprobe ist, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Sich selbst so zu sehen, wie man ist, durch das Zauberspiegeltor zu schreiten. Wie in der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende entscheidet dieser Mut darüber, ob die Welt noch zu retten ist.