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Essay über Prokrastination Morgen, morgen, nur nicht heute

Jeder und jede Dritte zögert regelmäßig, etwas zu tun. Wie sehr Prokrastination, die chronische Aufschieberitis, die Menschen ausbremst und wer davon profitiert.
10.09.2023, 14:26 Uhr
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Morgen, morgen, nur nicht heute
Von Monika Felsing

Schon das Wort ist eine Zumutung. Es kratzt an den Stimmbändern und tötet jeden Elan: Prokrastination bremst Menschen aus. Früher hat die chronische Aufschieberitis dazu geführt, dass ein Soziologiestudium 36 Semester gedauert oder ein Wasserhahn wochenlang getropft hat. Inzwischen ist auch wegen der Handys ein weltweiter Trend daraus geworden. Wir lassen uns ablenken, wo wir gehen, sitzen und stehen. Und seit eine Pandemie uns dazu gezwungen hat, Pläne zu verschieben, selbst solche, die wir gar nicht hatten, gehört es zum guten Ton, Entscheidungen hinauszuzögern. Wer sich nicht einmal zum Nachdenken über die eigene Verantwortung aufraffen kann, ist schon willkommen im Club.

Und der sitzt in den USA. In Philadelphia ist die Weltzentrale aller, die sich mehr Zeit nehmen, als sie haben. Der "Procrastinators' Club of America" hat 1952 gegen einen Krieg demonstriert, der 1812 zu Ende war, und feiert Rennpferde, die als Letzte durchs Ziel gehen. "Produktivität wird überschätzt" ist einer seiner Glaubenssätze, Entspannung quasi Pflicht. Clubmitglieder sind der Überzeugung: Wenn es sich lohnen würde, dies oder das zu tun, wäre es bereits getan worden. Wunder geschehen. Und es ist nie zu spät, etwas zu verschieben. 

Kontrollverlust

Der Verhaltensforscher Piers Steel aus Calgary, spezialisiert auf Motivation, hat seine eigene öffentlich preisgegeben: "Ich war ein schrecklicher Zauderer und habe darunter gelitten. Ich wollte wissen, warum ich mich so verhalte." Chronische Prokrastination ist eine ernste Sache. Sie führt dazu, dass Menschen sich selbst im Weg stehen, dass sie nicht mehr abschalten können, schlecht schlafen, von Selbstzweifeln zerfressen werden oder sogar Depressionen entwickeln. Ein Kontrollverlust, wie ihn vor allem impulsive Typen erleiden. Das Ende der Selbstbestimmung. Managementtrainerin Vera F. Birkenbihl, die 2011 in Osterholz-Scharmbeck gestorben ist, sprach von Selbstsabotage. Piers Steel nennt Zahlen: Laut Studien seien in den Siebzigern noch etwa sechs Prozent der Menschen chronische Aufschieber gewesen, 2010 schon rund 20 Prozent. Heute sollen es rund 30 Prozent sein. Fast jeder und jede Dritte zögert ständig etwas hinaus.

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Was wird nicht alles verschoben: Die Rettung der Welt, seit der Club of Rome Alarm geschlagen hat. Die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit der Westsahara. Gerichtsverfahren und Operationen aus  Personalmangel. Eine echte Kindergrundsicherung und ganz grundsätzlich die Bekämpfung der Armut und das Begrenzen von Reichtum. Das Verbot von krebserregenden Stoffen. Angemessene Bezahlung von Pflegekräften und Unterstützung für pflegende Angehörige. Friedensverhandlungen. Das Ende der Verbrennungsmotoren, der Massentierhaltung, des Paragrafen 218 und der Steuerbefreiung von Flugbenzin. Ein Organspenderegister. Das Heizungsgesetz. Lobbys, die daran arbeiten, dass Entscheidungen vertagt werden, können sich ihres Erfolges sicher sein, denn so manches Moratorium bringt Konzernen Profit und denen Wählerstimmen, die Aktionen zum Aktionismus erklären.

Aufschieben oder nicht aufschieben? Das ist eine der Kultfragen beim Poetry Slam, und kaum eine beantwortet sie so vorzeitig weise wie Julia Engelmann. Das Video ihrer fünf Mikrofonminuten von 2013 ist mehr als 15 Millionen Mal angeklickt worden. Ihr Gedicht, frei nach Asaf Avidans "Reckoning Song" ("One Day, Baby, we'll be old...", eines Tages, Baby, werden wir alt sein), traf einen Nerv und veränderte ihr Leben. Für ihre Karriere hat die Bremerin unterlassen, was sie konnte, erst Klausuren verschoben, dann das Studium abgebrochen. Heute singt sie vor großem Publikum, wenn sie nicht gerade Bestseller schreibt. Ihre Botschaft ist im Kern gleich geblieben: "Warte nicht auf den Startschuss, warte nicht auf das Glück. Grüner wird's nicht." Auch nicht eines Tages, Baby.

Ein Anliegen kann so wichtig sein, wie es will – bisher hat sich noch immer eine lange Bank gefunden, auf die es geschoben werden kann. Es sei denn, es reizt uns, etwas zu unternehmen. Neurobiologisch läuft es stark vereinfacht so ab: Der präfontale Cortex, das Vernunftzentrum des Gehirns und Sitz der Persönlichkeit, und das limbische System empfangen ein Signal. Der eine will abwägen, planen, handeln, das andere verlangt nach einer Belohnung. Und zwar dalli! Je länger es dauern wird, bis sich unser Einsatz ausgezahlt hat, desto wahrscheinlicher ist es, dass das limbische System die Reaktion bestimmt. Wozu sparen, wenn ich mein Geld verjubeln kann? Wozu auf Kreuzfahrten, Flüge oder das SUV verzichten, wenn das Wetter auch schon früher schlecht war? Warum es sich mit dem Wahlvolk verderben, wenn sich erst 2050 herausstellen wird, wie faul all die Kompromisse waren? Warum sich für etwas einsetzen, wenn man sich unbeliebt macht? Wozu aufstehen, wenn andere auch liegen bleiben?

Weil wir uns wünschen, dass doch noch alles gut wird. In der berühmten letzten Minute, ohne die laut Mark Twain gar nichts fertig würde. Seine Empfehlung: Wenn du eine Kröte schlucken musst, dann tu es am Morgen. Musst du zwei schlucken, dann besser die Größere zuerst. Unser innerer Schweinehund aber ignoriert die Kröten, die große und die kleine, und alle guten Ratschläge der Welt. Wer noch nie etwas verschoben hat, werfe den letzten Stein.

Manche hoffen, dass die Zeit für sie arbeitet. Falls aufgeschoben aufgehoben ist, wird vielleicht doch keine Küstenautobahn und kein Endlager gebaut. Droht aber jemand zu ertrinken, ist Abwarten zynisch. "Die Schande Europas" hat Jean Ziegler, Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats, nach dem Besuch des Lagers Moria die europäische Flüchtlingspolitik genannt. Unter menschenunwürdigen Bedingungen, zur Untätigkeit verdammt, warten Erwachsene, Jugendliche und Kinder darauf, dass ihr Leben weitergeht.

Unrecht kann sich ungehindert fortsetzen, wenn die Mühlen der Politik, der Justiz oder der Behörden betont langsam mahlen. Wie viele Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Osteuropa sind gestorben, bevor sie vielleicht doch noch entschädigt worden wären, wie viele Männer nur deshalb nicht vorbestraft, weil Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 zur Straftat erklärt worden ist?

Wer sich nicht dazu durchringen kann, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, lebt mit Lügen. Die Wunschvorstellung "Opa war kein Nazi" hat noch um 2000 zur Geschichtsklitterung beigetragen, wie Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall in ihrer Studie gezeigt haben. Und anders, als manche in den Achtzigern gehofft hatten, hat sich der Rechtsextremismus auch nicht mit dem Tod der letzten Altnazis erledigt. Was sich verzögerte, war die Aufklärung von Gewaltverbrechen, die man hätte verhindern können.

Wann sich Nichtstun lohnt

Die gute Nachricht: Auch Nichthandeln kann wertvoll sein, wenn nicht gerade Wahltag ist. Es bringt etwas, weniger Fotos und Filme in Clouds abzuladen, wo sie Energie fressen. Plastik zu vermeiden. Hass keinen Raum zu geben und der Vorstellungskraft freien Lauf zu lassen. "The only good nation is imagination", die einzige gute Nation ist die Imagination, ist das klügste aller Bremer Graffiti. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um zu erkennen: In lebenswichtigen Fragen ist Deutschland längst eine Prokrasti-Nation. Wie kann es sonst sein, dass soziale Gerechtigkeit nicht ganz oben auf der Tagesordnung steht und eine Partei Zulauf bekommt, die leugnet, dass es so etwas wie den Klimawandel gibt, und so tut, als könne sie den Lauf der Welt aussitzen? Realitätsverlust und Aufschieberitis helfen dabei, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören.

Manchmal muss der Druck erhöht werden, um etwas zu bewegen. Die Natur beherrscht dieses Prinzip. Erdbeben, Hitzewellen, Hochwasser,  Feuersbrünste und Tornados nehmen zu, die Artenvielfalt ab, Seen trocknen aus, Ernten verdorren, Berge rutschen in die Täler, und die Polkappen schmelzen schneller als vorhergesagt. Das macht Angst, und Angst lähmt. Höchste Zeit, dass das Vernunftzentrum übernimmt. Eine lange Leitung muss man sich leisten können.

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