Häuser stürzen ein und begraben ihre Bewohner unter sich, bei eisigen Temperaturen suchen Retter nach Überlebenden – ein verheerendes Erdbeben der Stärke 7,7 hat allein in der Türkei mindestens 2316 Menschen das Leben gekostet. In Syrien kamen nach aktuellem Stand (22 Uhr) mindestens 1300 Menschen ums Leben. Die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad registrierte 185 Nachbeben.
Afad zufolge lag das Epizentrum des Hauptbebens mit einer Stärke von 7,7 am Morgen im südtürkischen Kahramanmaras. Mittags erschütterte ein Beben der Stärke 7,5 dieselbe Region, wie in Istanbul die Erdbebenwarte Kandilli meldete. Auch im Libanon und im Irak bebte die Erde, ebenso auf der nahe gelegenen Mittelmeerinsel Zypern. Nach Angaben von EU-Vertretern war das Erdbeben in der Nacht zum Montag eines der stärksten in der Region in mehr als 100 Jahren.
Das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe war zunächst nicht absehbar. Mehr als 15.000 Menschen wurden nach bisherigen Informationen in der Türkei und in Syrien verletzt.
Bei den Erschütterungen stürzten allein in der Südosttürkei Tausende Gebäude ein. Auf Videos aus mehreren Städten in dem Gebiet waren teilweise völlig zerstörte Straßenzüge zu sehen. Es werden etliche weitere verschüttete Menschen unter den Trümmern vermutet.
Regen, Schnee und Kälte erschwerten die Hilfseinsätze. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte zu, Deutschland werde selbstverständlich Hilfe schicken. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) rief alle Menschen guten Willens und insbesondere die muslimische Gemeinschaft auf, schnell Geld- und Sachspenden in die Gebiete zu schicken.
Flughäfen geschlossen
In Syrien stürzten der staatlichen Nachrichtenagentur Sana zufolge in zahlreichen Städten Gebäude ein. Rettungsteams versuchten in der Nacht und im Morgengrauen, Menschen aus den Trümmern zu ziehen. Der Leiter des Nationalen Erdbebenzentrums Raed Ahmed sagte laut Sana, dies sei das stärkste Beben in Syrien seit 1995. Präsident Baschar al-Assad rief sein Kabinett zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Videos zeigten Trümmerberge unter anderem aus der Provinz Idlib, teils kollabierten ganze Häuserreihen.
Mehrere Flughäfen in besonders von dem Erdbeben betroffen Regionen der Türkei blieben vorerst für zivile Flüge geschlossen. Dabei gehe es um die Flughäfen in Hatay, Kahramanmaras und Gaziantep, sagte Vizepräsident Fuat Oktay am Montagmorgen. Der Sender CNN Türk zeigte Bilder von einem tiefen Riss in einer Landebahn am Flughafen Hatay.
Hilfsorganisationen und Gemeinden in den betroffenen Regionen riefen neben Blutspenden auch zu Sachspenden auf und baten etwa um Decken, Heizer, Winterkleidung, Essenspakete und Babynahrung.
Krankenhäuser überlastet mit Schwerverletzten
"Wir reagieren mit allem, was wir können, um diejenigen zu retten, die unter den Trümmern liegen", sagte der Leiter der Rettungsorganisation Weißhelme, Raed Al Saleh. "Die Krankenhäuser sind überlastet mit Schwerverletzten", sagte ein Sprecher der Organisation. Regen und Kälte erschwerten die Einsätze zusätzlich. "Wir brauchen dringend die Hilfe der internationalen Gemeinschaft", sagte Basel Termanini, Vorsitzender der Syrian American Medical Society (SAMS). Die Lage sei "katastrophal".
Das Beben sei in zehn Provinzen der Türkei zu spüren gewesen, sagte Vize-Präsident Oktay. Unter den eingestürzten Gebäuden sei neben Wohnhäusern auch ein Krankenhaus in der Stadt Iskenderun. In der Stadt Gaziantep wurde laut staatlicher Nachrichtenagentur Anadolu auch die Burg stark beschädigt. Sie ist ein Unesco-Weltkulturerbe.
Menschen in der Türkei wurden aufgerufen, wegen der Kommunikationsengpässe online zu telefonieren und nicht über das Handy-Netz, damit vorrangig Verschüttete erreicht werden können. Die Temperaturen in den betroffenen Gebieten liegen zurzeit oft im Minusbereich. An manchen Orten schneite es stark. Im Staatssender TRT war zu sehen, wie Menschen bei Schnee in der Stadt Iskenderun aus Trümmern befreit wurden. Auch aus den Städten Gaziantep, Sanliurfa, Osmaniye, Diyarbakir und Adana wurden Bilder gezeigt, auf denen Menschen teilweise in Decken gehüllt abtransportiert wurden.
Erdogan ruft einwöchige Staatstrauer aus
Auch im Libanon, der an Syrien grenzt, war das Erdbeben zu spüren. In der Hauptstadt Beirut verließen Anwohner teils fluchtartig ihre Häuser. Zu spüren war das Beben auch in Israel. Nach Angaben der israelischen Polizei gab es aber keine Verletzten oder Schäden.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan schrieb auf Twitter: „Wir hoffen, dass wir diese Katastrophe gemeinsam in kürzester Zeit und mit möglichst geringem Schaden überstehen.“ Er rief eine einwöchige Staatstrauer aus. Flaggen aller Vertretungen im In- und Ausland sollen dafür bis Sonntag auf halbmast wehen, wie es auf dem Twitter-Account des Präsidenten am Montagabend hieß.
Rettungsteams mobilisiert
Das Zentrum für Katastrophenhilfe der EU koordiniert nach dem schweren Erdbeben die Entsendung von europäischen Rettungskräften in die Türkei. Nach Angaben eines Sprechers der EU-Kommission in Brüssel wurden bis Montagmittag bereits mehr als zehn Such- und Rettungsteams mobilisiert, um die Ersthelfer vor Ort zu unterstützen. Sie kommen aus Bulgarien, Kroatien, Frankreich, Griechenland, den Niederlanden, Polen, Rumänien, Ungarn, Malta und Tschechien. Italien, Spanien und die Slowakei stehen zudem bereit, um ebenfalls Rettungsteams zu schicken.

Ein von der amtlichen syrischen Nachrichtenagentur SANA veröffentlichtes Foto zeigt Rettungskräfte und Menschen, die versuchen mit Baggern Menschen aus dem Trümmern zu retten.
Zur Unterstützung wurde auch der Copernicus-Satellitendienst der EU aktiviert, wie der zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell mitteilten. Mit dessen Daten können unter anderem Lagekarten erstellt werden, die ein detailliertes Ausmaß der Schäden zeigen.
"Die EU ist auch bereit, die Betroffenen in Syrien (...) mit humanitären Hilfsprogrammen zu unterstützen", ergänzten die beiden EU-Vertreter. "Unsere Gedanken sind bei allen, die geliebte Menschen verloren haben und den mutigen Ersthelfern, die sich für die Rettung von Menschenleben einsetzen." Ein Sprecher der EU-Kommission sagte am Mittag, aus Syrien gebe es bislang keinen Antrag auf Hilfe.

Menschen durchsuchen die Trümmer eines eingestürzten Gebäudes in der Stadt Azmarin in der Provinz Idlib im Norden Syriens.
Bereits am Vormittag hatte die Kommission den Start des EU-Katastrophenschutzverfahrens angekündigt. Es zielt laut der Brüsseler Behörde unter anderem darauf ab, die Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedsländern und den anderen teilnehmenden Staaten zu stärken und die Reaktion auf Katastrophen zu verbessern. Wenn ein Notfall die Reaktionsfähigkeit eines Landes überfordert, kann das Land über das Verfahren Unterstützung anfordern. Neben den EU-Staaten sind auch die Türkei und europäische Länder wie Norwegen an dem System beteiligt.
Türkei bittet Nato-Partner um Feldkrankenhäuser
Die Türkei bittet ihre Nato-Partner nach dem schweren Erdbeben um Unterstützung bei den Rettungs- und Bergungsarbeiten. Nach einer am Montag von der Bündniszentrale in Brüssel veröffentlichen Aufstellung braucht sie medizinische Nothilfeteams, notfallmedizinische Ausrüstung sowie Such- und Rettungsteams, die auch unter schweren Bedingungen arbeiten können. Konkret werden zudem drei für extreme Wetterbedingungen geeignete Feldkrankenhäuser und Personal für deren Einrichtung genannt.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte bereits am Vormittag mitgeteilt, Alliierte seien dabei, Unterstützung zu mobilisieren. Er selbst sei in Kontakt mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und Außenminister Mevlut Cavusoglu. Über seine Nachricht setzte Stoltenberg die Worte: "Uneingeschränkte Solidarität mit unserem Verbündeten Türkei nach diesem schrecklichen Erdbeben."
Bundeskanzler Olaf Scholz sichert Hilfe zu
Bundeskanzler Olaf Scholz sagte zu, Deutschland werde selbstverständlich Hilfe schicken. „Mit Bestürzung verfolgen wir die Nachrichten vom #Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion“, schrieb Scholz auf Twitter.
In Italien gab der Zivilschutz noch in der Nacht zu Montag eine Tsunami-Warnung aus, die wenige Stunden später zurückgenommen wurde. Die Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni bot der Türkei und Syrien Hilfe an. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg schrieb auf Twitter, die Nato-Partner der Türkei seien bereit, Unterstützung zu mobilisieren. Das Auswärtige Amt in Berlin mahnte zur Vorsicht und riet, sich an die Anweisungen der örtlichen Behörden zu halten.
Die Türkei ist immer wieder von schweren Erdbeben betroffen. Dort grenzen zwei der größten Kontinentalplatten aneinander: die afrikanische und die eurasische. Der größte Teil der türkischen Bevölkerung lebt faktisch in ständiger Erdbebengefahr.

Ein eingestürztes Gebäude ist nach einem Erdbeben in Pazarcik in der südtürkischen Provinz Kahramanmaras zu sehen.
Bei einem der folgenschwersten Beben der vergangenen Jahre kamen im Oktober 2020 in Izmir mehr als 100 Menschen ums Leben. Im Jahr 1999 war die Türkei von einer der schwersten Naturkatastrophen in ihrer Geschichte getroffen worden: Ein Beben der Stärke 7,4 in der Region um die nordwestliche Industriestadt Izmit kostete mehr als 17.000 Menschen das Leben. Für die größte türkische Stadt Istanbul erwarten Experten in naher Zukunft ebenfalls ein starkes Beben.
+++Hinweis: Dieser Artikel wurde am 6. Februar um 22:04 Uhr aktualisiert.+++