Bei Sülmez Colak glühten am Montagmorgen die Drähte. Die Eltern der grünen Vizepräsidentin der Bürgerschaft stammen aus Antakya im äußersten Süden der Türkei, nur wenige Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Viele Verwandte und Bekannte seien vom verheerenden Erdbeben in der Region betroffen, sagt sie. "Einige sind verletzt, einige vermisst – ganz schlimm."

Sülmez Colak ist Mitglied der Bremischen Bürgerschaft.
Ähnliches weiß Sezer Öncü zu berichten, die Assistentin von SPD-Fraktionschef Mustafa Güngör. Die Heimat ihrer Eltern ist Iskenderun, eine Hafenstadt unweit Antakya. Die schlimmste Nachricht kam von einer Freundin: Eine vierköpfige Familie mit zwei kleinen Kindern konnte nur noch tot aus den Trümmern geborgen werden.
Als Sezer Öncü am Morgen von den Ereignissen hörte, schickte sie sofort digitale Textnachrichten an ihre Verwandten. "Zuerst gab es keine Verbindung, ich habe nichts gehört", sagt sie. Dann endlich die erlösende Nachricht, dass es ihnen gut gehe. Doch zu anderen Angehörigen gibt es bislang keinen Kontakt. "In Iskenderun leben viele Cousinen und Cousins, die ich noch nicht erreicht habe." Die Ungewissheit zehrt an den Nerven. "Wir sind alle aufgeregt und in Sorge um unsere Freunde und Verwandten."
Aus dem schwer in Mitleidenschaft gezogenen Iskenderun hat Sezer Öncü zahlreiche Fotos zugeschickt bekommen. Die Bilder zeigen etliche eingestürzte Häuser, Trümmerberge säumen die Straßen der 160.000 Einwohner-Stadt. Fassungslos stehen die Menschen vor den Resten ihrer Existenz. "Es sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen." In ihre Häuser und Wohnungen trauen sich die Menschen nicht zurück. "Man kann noch nicht mal eine Decke holen", sagt Sezer Öncü. Wer ein Auto hat, kann sich glücklich schätzen. Eine Freundin werde mit ihrer Familie im Wagen übernachten. "Wer aber kein Auto hat, sitzt auf der Straße." Bei Regen und Temperaturen um die neun Grad eine zusätzliche Belastung.
Ob der Alptraum schon ausgestanden ist, scheint fraglich. Öncüs Neffe berichtet von anhaltenden Nachbeben, die Erde kommt nicht zur Ruhe. Ziemlich laut sei das, ein grollendes Geräusch "wie beim Donnern". Der Neffe sagt, man spüre das Wackeln. Wenig verwunderlich daher, dass die Menschen die Rückkehr in ihre Wohnungen scheuen. "Meine Freundin wohnt im fünften Stock", sagt Sezer Öncü. Erst im vergangenen Jahr hat sie der Heimat ihrer Eltern einen Besuch abgestattet. Die Region am Mittelmeer liegt ihr am Herzen: "Die Gegend ist noch nicht so von Touristen überlaufen."
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Seit Menschengedenken wird die Region immer wieder von schweren Erdbeben heimgesucht. In die Geschichtsbücher ist das Jahr 526 eingegangen. Damals wurde Antiochia – heute Antakya – von einem Beben erschüttert, das bis 250.000 Todesopfer gefordert haben soll. Das letzte schwere Beben liegt schon länger zurück, vor mehr als 25 Jahren soll es gewesen sein. Önzü: "Seitdem hat es immer nur kleine, leichtere Beben gegeben." Bis zu diesem Montag. Für die Menschen vor Ort kam die Katastrophe völlig unerwartet, viele wurden im Schlaf überrascht. "Keiner hat damit gerechnet, dass so etwas passieren würde", sagt Sülmez Colak.
Bislang gibt es unter den Verwandten und Freunden von Colak und Önzü keine Toten zu beklagen. Ob es dabei bleibt, ist allerdings keineswegs sicher. Seit den ersten Meldungen hat sich die Zahl der Toten kontinuierlich erhöht. "Ich hoffe nicht, dass doch noch eine solche Nachricht kommt", sagt Sezer Önzü. Unterdessen wünscht Colak allen Verletzten eine baldige Genesung und drückt den Angehörigen der Toten ihr Beileid aus.