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Narcotics Anonymous in Bremen Wie eine der größten Selbsthilfegruppen gegen Drogensucht unterstützt

In Bremen treffen sich wöchentlich Mitglieder von Narcotics Anonymous, um über ihre Drogensucht und den Weg zur Abstinenz zu sprechen. Doch was steckt hinter der weltweit aktiven Selbsthilfegruppe?
14.05.2024, 05:00 Uhr
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Wie eine der größten Selbsthilfegruppen gegen Drogensucht unterstützt
Von Kristin Hermann

Der Name klingt nach Party: „Saturday Night“ heißt der Titel des Treffens. Vor dem Gebäude in der Bremer Bahnhofsvorstadt trudeln immer mehr Menschen ein, Jung und Alt – am Ende werden es knapp 30 sein. Die Frauen und Männer begrüßen sich herzlich, einige mit Handschlag, andere fallen sich in die Arme. Es wird viel gelacht. Manche sind seit Jahren Weggefährten. Um 18 Uhr nehmen sie in einem Raum des Gebäudes Platz und bilden einen Stuhlkreis. Statt Wein und Bier gibt es Tee und Wasser. Statt Party und Tanz werden die Teilnehmer in den nächsten anderthalb Stunden über ihre Drogensucht sprechen und darüber, wie sie clean geworden sind.

Die Menschen, die dort zusammenkommen, sind Mitglieder von Narcotics Anonymous, kurz NA. Dabei handelt es sich um eine der weltweit größten aktiven Selbsthilfegruppen von Drogensüchtigen. 1953 aus den Anonymen Alkoholikern heraus entstanden, ist die Selbsthilfegemeinschaft inzwischen in knapp 150 Ländern aktiv. Ziel ist die vollständige Abstinenz. Für immer clean zu bleiben, erscheint den meisten Süchtigen jedoch häufig als große Bürde. Das Motto der Bewegung lautet deshalb "Just for today" - "Nur für heute".

Tausenden Menschen ist mithilfe der Gruppensitzungen und eines Zwölf-Schritte-Programms inzwischen der dauerhafte Ausstieg aus der Sucht gelungen. Im deutschsprachigen Raum hat NA seit 1978 an Bedeutung gewonnen. Allein in Deutschland und Österreich gibt es wöchentlich mehr als 430 Meetings, darunter Online-Veranstaltungen oder Angebote für Frauen und Treffen in anderen Sprachen. Unter den Mitgliedern seien alle Milieus vertreten. „Wir haben jene, die nach 35 Jahren Suchterfahrung das erste Mal zu uns kommen und Menschen, die bereits mit 17 ihr erstes NA-Meeting besuchen“, sagt Manfred*, Vereinsvorsitzender von Narcotics Anonymous Deutschland. Am kommenden Wochenende wird Bremen für NA-Mitglieder besonders wichtig. Dann findet die 38. Deutschland-Convention statt, zu der Interessierte aus dem gesamten Bundesgebiet erwartet werden.

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Ziel ist vollständige Abstinenz

In Bremen werden wöchentlich acht Meetings angeboten. Die einzige Voraussetzung, um daran teilzunehmen, ist laut NA der Wunsch, mit den Drogen aufzuhören. Um welche Drogen es sich dabei handele, spiele keine Rolle. Die Suchterfahrungen der Mitglieder reichen über den Konsum von illegalen Substanzen wie Heroin, Kokain, Haschisch oder Partydrogen zu legal konsumierten Medikamenten oder Alkohol. Ziel ist es, langfristig abstinent von allen bewusstseinsverändernden Drogen, einschließlich Alkohol, zu leben.

Der Ablauf der Treffen folgt bestimmten Richtlinien, die weltweit ähnlich sind. Meist werden die Meetings von einem NA-Mitglied geleitet. Der Schwerpunkt liegt auf den persönlichen Erfahrungen mit Sucht und Genesung. Zu Beginn wird an diesem Abend das Gelassenheitsgebet gesprochen. Anschließend werden verschiedene NA-Texte vorgelesen, darunter die zwölf Schritte, die als eine Art Leitfaden für die Gruppe dienen. Zu dem Programm gehören unter anderem die Einsicht, dass die Drogensucht das eigene Leben beeinträchtigt und die Bereitschaft, an den Schwächen zu arbeiten und Wiedergutmachung zu leisten.

Bevor einzelne Mitglieder sich für Rede­beiträge melden können, gibt es zunächst noch zwei sogenannte Clean-Geburtstage zu feiern. Ein Mann hat seit 15 Jahren nicht mehr konsumiert, sein Stuhlnachbar lebt seit 18 Monaten abstinent. Für ihren Erfolg erhalten sie einen neuen Chip, den viele der Mitglieder als Erinnerung für ihren Erfolg bei sich tragen. Es wird geklatscht und gejubelt, viele drücken ihre ­Anerkennung aus. NA selbst gibt an, dass die Mitglieder im Durchschnitt etwa neun Jahre clean sind.

Angesprochen werden die Mitglieder nur mit ihrem Vornamen. Wer anwesend war oder was in einem Meeting gesagt wurde, soll nicht nach außen getragen werden. Das gilt auch im Umgang mit der Presse. „Wir legen großen Wert auf Vertraulichkeit. Wir sind anonym, aber kein Geheimbund“, erklärt Manfred.

Als eine Art Impulsvortrag erzählt ein langjähriges Mitglied über das Thema „Leben und Tod mit NA“. Danach können sich jene Anwesenden melden, die etwas mit der Gruppe teilen möchten, ihre Redezeit ist auf wenige Minuten begrenzt. Es wird nicht unterbrochen, diskutiert oder Ratschläge erteilt. Jeder spricht nur von sich. Der eine erzählt davon, warum sich die Abstinenz mit NA besser anfühlt als mit einer herkömmlichen Therapie, die andere spricht über Versöhnung, der Dritte, wie er als Jugendlicher in Kontakt mit Drogen gekommen ist, und warum ihm die Meetings auch nach mehr als 30 Jahren wichtig sind.

Mit elf Jahren das erste Mal Heroin

Bis dahin hat Paulina* noch einen langen Weg vor sich. Die 35-Jährige ist seit fünfeinhalb Monaten clean, erzählt sie im Anschluss an das Meeting in der Bahnhofsvorstadt. Ihr sei der Absprung schon einmal für zehn Jahre gelungen, doch im vergangenen Jahr habe sie einen Rückfall erlitten. In solchen Situationen seien NA-Mitglieder dennoch weiter willkommen. Wichtig sei nur der Wille, etwas zu verändern. „Man wird nicht verurteilt und fühlt sich in der Gruppe aufgehoben“, sagt die Bremerin. Die ersten 90 Tage habe sie jeden Tag an einem Meeting teilgenommen. Das wird Süchtigen zu Beginn geraten. Mittlerweile sei sie einmal in der Woche bei dem Treffen am Sonnabend.

Seit ihrer Kindheit ist Paulina mit Drogen konfrontiert. Ihre Eltern seien beide heroinabhängig gewesen, der Stoff habe nicht selten offen herumgelegen. Mit elf Jahren habe sie das Opioid selbst zum ersten Mal ausprobiert. Danach folgen Jahre der Abhängigkeit. Um gewisse Traumata aufzuarbeiten, sei sie nebenbei in Therapie. „Bei den Treffen von NA ist es aber eine andere Augenhöhe, ich fühle mich dort verstanden. Ein Stück weit ist es meine Ersatzfamilie“, sagt sie. Zudem sage ihr der spirituelle Ansatz der Gruppe zu.

In den Texten der Bewegung ist etwa von einer „höheren Macht“ die Rede oder von „Dienerinnen und Diener der höchsten Autorität“. Für einige Menschen scheint das zunächst gewöhnungsbedürftig. Bei Recherchen im Internet stößt man auf Foren, die NA vereinzelt als „Sekte“ beschreiben. „Jeder kann selbst definieren, was er oder sie sich unter einer höheren Macht vorstellt“, sagt Vereinsvorsitzender Manfred. NA habe keine Meinung zu religiösen oder sonstigen Fragen. „Einen Anführer oder einen Guru gibt es nicht.“ Alle Angebote seien kostenlos und werden durch Spenden auf freiwilliger Basis finanziert. Damit will die Bewegung nach eigenen Angaben die Unabhängigkeit gegenüber staatlichen oder sonstigen Einrichtungen wahren. Auch in Bremen steht an diesem Abend eine Spendenbox auf dem Tisch.

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Nach Einschätzung der Gesundheitsbehörde ist Narcotics Anonymous in Bremen die größte und am meisten genutzte Selbsthilfegruppierung für Menschen mit einer drogenbezogenen Abhängigkeitserkrankung. „Insgesamt ist dieses Angebot der Unterstützung eine nicht zu ersetzende Ergänzung des professionellen Suchthilfesystems“, sagt Ressortsprecherin Kristin Viezens. „Wir sind froh, dass es das weitverzweigte Angebot gibt, und wissen von vielen Nutzenden, für die die NA-Selbsthilfe-Begleitung mit ausschlaggebend beim Weg zur Konsumreduktion und Abstinenz war.“

Damit Menschen wie Paulina der dauerhafte Ausstieg aus der Sucht gelingt, gibt es bei NA zusätzlich Sponsoren. Das sind Süchtige, die längere Zeit clean sind und neuen Mitgliedern helfen, auf die Beine zu kommen und ihnen über Jahre hinweg zur Seite stehen. Nicht selten entstehen dabei Freundschaften, die fürs Leben halten, erzählen einige Mitglieder aus Bremen. Sogar Ehen sind bereits aus NA-Bekanntschaften hervorgegangen, wie ein anwesendes Paar beweist. „Wir haben NA-Freunde auf der ganzen Welt, gehen selbst in Meetings, wenn wir auf Reisen sind“, sagen sie. Auch nach vielen Jahren der Abstinenz sei ihnen die regelmäßige Teilnahme an den Meetings wichtig. „Süchtig bleibt man sein Leben lang.“

*Namen von der Redaktion geändert.

Zur Sache

Deutschland-Convention in Bremen

Vom 17. bis zum 19. Mai 2024 findet in Bremen die 38. Deutschland-Convention von Narcotics Anonymous statt. Die Veranstaltung beginnt am Freitagnachmittag um 16 Uhr in der St.-Pauli-Gemeinde, Große Krankenstraße 11, 28199 Bremen, und endet sonntagnachmittags. Erwartet werden rund 400 Teilnehmer aus dem gesamten Bundesgebiet. Es finden Meetings zu verschiedenen Themen statt, samstagabends steht eine Disco auf dem Programm. Zu dem Jahrestreffen der Gruppe sind von Sucht Betroffene sowie interessierte Angehörige und Gäste willkommen. Die Teilnahme ist kostenlos. Weitere Informationen zu der Selbsthilfegruppe gibt es im Internet unter www.narcotics-anonymous.de.

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