Wenn er nicht langsam handelt, läuft es entweder auf die Psychiatrie, das Gefängnis oder den Tod hinaus, da ist sich Martin Richartz* sicher. "Bei mir hätte ich am ehesten auf Tod getippt", sagt er. Er hatte mal wieder fünf oder sechs Tage am Stück nicht geschlafen. So genau weiß er das nicht mehr. Ein stundenlanger Rausch aus Partys und Sex, an dessen Ende er umkippt und 48 Stunden durchschläft, weil Körper und Geist nicht mehr mitmachen. Es ist nicht das erste Mal, dass Richartz diesen Punkt erreicht. Wenn er so richtig mit dem Crackrauchen anfange, falle es ihm schwer, aufzuhören. Die Droge mache ihn mutiger, befreiter, sie lasse Probleme und unschöne Kindheitserinnerungen verschwinden – wenn auch nur für einen kurzen Moment.
In Bremen kennt man Crack vor allem aus dem Bahnhofsumfeld. Richartz würde man rein optisch diesem Milieu eher nicht zuordnen. Der 49-Jährige ist sportlich, braungebrannt, gepflegt, viele bunte Tattoos zieren seine Arme und Beine. Er erzählt davon, wie er bereits mehrere Firmen in seinem Leben gegründet habe, von Partnerschaften und welches Glück ihm seine drei Kinder bereiten würden. Phasenweise lebt er abstinent, baut sich mit seiner damaligen Lebensgefährtin ein Leben in Südeuropa auf.
Selbsthilfegemeinschaft gibt ersten Anstoß
Doch die Sucht habe sich immer wieder von hinten angeschlichen. Der Tod seiner Eltern vor ein paar Jahren wirft ihn zusätzlich aus der Bahn. "Wie oft habe ich die Crackpfeifen ins Meer geworfen und mir geschworen nun endgültig aufzuhören", sagt er. Ein paar Stunden später habe er sich aus einer Coladose die nächste Pfeife gebaut.
Vor etwa zwei Jahren entdeckt Richartz nach einem Rausch eine Nachricht von seiner Ex-Freundin auf dem Handy. Sie enthält eine Telefonnummer zu den sogenannten "Narcotics Anonymous" (NA), einer internationalen Selbsthilfegemeinschaft von genesenden Süchtigen, die sich gegenseitig helfen, clean zu werden und clean zu bleiben. Plötzlich sind da Menschen, die seine Situation kennen und einen Ausweg gefunden haben. Das hilft ihm sehr.
Ähnlich wie bei den Anonymen Alkoholikern gibt es ein Zwölf-Schritte-Programm. Das Motto der Bewegung lautet "Just for today" – "Nur für heute". "Für immer clean zu bleiben, erscheint den meisten Süchtigen als zu große Bürde. Deshalb denkt man von Tag zu Tag", sagt er. Anonymität gehört bei den NA dazu. Deshalb will Richartz seinen richtigen Namen nicht veröffentlicht wissen.
Für den 49-Jährigen ist das Telefonat mit einem Vertreter der Gruppe der erste Schritt auf einem langen Weg in Richtung Genesung, zu denen auch Rückfälle zählen. Viele Monate später sitzt der gebürtige Hannoveraner nun in einer Klinik in Bremen. Im Reha-Centrum Alt-Osterholz will er sich selbst und die Gründe für seinen jahrelangen Drogenkonsum besser verstehen. "Ich fange hier an, meine gesamte Kindheit aufzuarbeiten und bestimmte Verhaltensmuster zu durchblicken. Das ist hart, tut mir aber im Endeffekt gut", sagt er.
Weil seine Eltern einen Gastronomiebetrieb führten, habe er früh selbstständig sein müssen. Sein Vater sei Alkoholiker gewesen, auch seine Mutter habe gelegentlich die Kontrolle verloren. "In Situationen, in denen es eine Umarmung gebraucht hätte, gab es eine Backpfeife", sagt Richartz.
Als Jugendlicher gerät er in Hannover in die Hooligan-Szene. Dort sei er das erste Mal mit Drogen in Berührung gekommen, später arbeitet er in Hamburg auf der Reeperbahn und tourt als Veranstaltungstechniker und Industriekletterer durch Deutschland und Europa. Er nimmt Speed, Ecstasy, Kokain, schließlich Crack. "Ich war eigentlich immer in irgendwelchen Subkulturen unterwegs, in denen viel konsumiert wurde", sagt er.
Cracksucht ist eine potenziell tödliche Krankheit
Seit 13 Wochen ist er nun in der Rehaklinik. Inzwischen registriere er bereits die ersten Erfolge. "Ich merke, wie hier allmählich meine geistige Gesundheit wieder hergestellt wird. Man lebt einen Wahnsinn, wenn man auf Crack oder Drogen ist", sagt er. Er treibe wieder mehr Sport, versuche Struktur in seinen Alltag zu integrieren. Seine Kinder unterstützen ihn bei dieser Reise, hätten ihn bereits in Bremen besucht.
Durch die Reha und Narcotics Anonymous sei ihm bewusst geworden, dass er eine mitunter tödlich verlaufende Krankheit habe. "Und mit dieser Krankheit werde ich mich jeden Tag auseinandersetzen müssen. Auch, wenn ich hier raus bin", sagt er. Dazu gehöre auch, dass er nie wieder ein Schluck Alkohol trinke. "Alles, was nur irgendwie enthemmt, kann Süchtigen zum Verhängnis werden und man ist schnell wieder drin."
Richartz bleiben noch einige Wochen in Bremen. Für die Zeit danach hat er sich viel vorgenommen. In Portugal besitze er eine Farm, auf der er in den kommenden Jahren einen Ort für Jugendliche und andere Süchtige schaffen möchte. "Mir ist es wichtig, etwas zurückzugeben", sagt er.
*Name von der Redaktion geändert.