Der Inhalt meines Wohnzimmerschranks ist auf dem ganzen Teppich verstreut. Erschrocken sehe ich mich um:
Der Fernseher steht noch an seinem Platz, nichts, was Wert hat, fehlt.
Ich laufe ins Schlafzimmer.
Alles unberührt, das Geld liegt noch unter der Matratze. Will mir jemand Angst machen? Mit zittrigen Händen wähle ich zweimal die Eins. Aber was soll ich der Polizei …?
Ich lege auf, dann nehme ich den Hörer doch wieder in die Hand.
„Tobias?“ Ein Glück! Mein Sohn ist im Büro. „Da war jemand in meiner Wohnung!“
„Fehlt denn was?“, fragt Tobias ungerührt.
„Nein, aber jemand hat den Schrank
durchwühlt und alles auf den Boden
geworfen.“ Ich muss weinen.
„Kannst du kommen?“
„Mama, ich kann doch nicht einfach …“
„Dies ist aber ein Notfall!“, unterbreche ich ihn.
„Das hast du letzte Woche auch gesagt.
Hör mal, … “ − sein Tonfall wird uner-
träglich belehrend. „Falls du jemanden zum Reden brauchst, …“
Ich lege auf.
Wenn du alt wirst, hören die Menschen auf, dich ernst zu nehmen, sogar die eigenen Kinder.
Ich hole tief Luft und setze mich hin. Vorhin im Kino hat mich eine Frau gefragt, wie alt ich denn sei.
„Alt genug, um diesen Film zu sehen“, habe ich ihr barsch geantwortet und meinen Personalausweis vorgezeigt.
Dann könnte ich in Zukunft Seniorenrabatt bekommen. In Zukunft?
„In meinem Alter kauft man keine
grünen Bananen mehr!“, habe ich
neulich zu meinem Gemüsehändler gesagt.
Ich öffne den Wohnzimmerschrank. Aber statt leerer Regale finde ich kleine, hübsche Kartons mit Weihnachtsmotiven vor. Offenbar habe ich sie selber mit den Zahlen 1 bis 24 beschriftet.
Neugierig öffne ich einen Karton nach dem anderen: Jochen lacht mir schwer verliebt entgegen. Der erste Kuss. Ich streichele sein Gesicht und schließe die Augen.
Familienurlaub. Muscheln, ein kleiner Leuchtturm von der Nordsee. Wir lächeln glücklich in den Wind.
Möwengeschrei.
Dann Luca und ich auf dem Freimarkt.
„Oma ist die Beste“ steht auf meinem
Lebkuchenherz.
Nikolaustag: Eine Kassette mit Jochens Lieblingsliedern. Ich hole den alten Kassettenrekorder. Zuerst
singe ich nur laut mit, dann drehe
ich auf und fange an zu tanzen.
„Was machst du denn da?“, fragt Janas Stimme plötzlich aus dem Nichts.
Ich zucke zusammen.
„Ich hab Sturm geklingelt, aber bei
dem Radau …“ Jana lacht. „Du bist ja
noch gar nicht fertig.“
„Gehen wir weg?“, frage ich verwirrt.
„Heute ist doch Lucas’ Konzert! Das hatte ich dir in den Kalender geschrieben“, sagt sie vorwurfsvoll.
„Ist es schon so spät?“, spiele ich
mit und gehe noch schnell ins Bad.
„Welches Datum haben wir eigentlich
heute?“, fragt mich Jana mit prüfendem Blick, als ich zurückkomme.
„Steht doch auf der Zeitung!“, sage ich und zeige auf den Küchentisch.
„Und was machen die bunten Kartons
da im Schrank?“, bohrt sie weiter.
„Das“, antworte ich glücklich, „ist mein ganz persönlicher Adventskalender.“
Jana sieht auf einmal so alt aus.
„Aber Weihnachten ist doch schon
lange vorbei, … Mama …“
Wie laut die Standuhr tickt, tickt …
„Für mich nicht!“, sage ich schnell und stelle meine Erinnerungen liebevoll zurück in den Schrank.