Beziehungen wie intensive Kammerspiele zu erzählen, das ist die Stärke des Regisseurs Philippe Claudel. In „Bevor der Winter kommt“ nimmt er ein Ehepaar unter die Lupe, in dessen Routine plötzlich eine junge Frau eindringt.
Das Leben hat es gut mit Lucie (Kristin Scott Thomas) und Paul (Daniel Auteuil) gemeint. Er ist ein erfolgreicher Neurochirurg, die beiden haben einen erwachsenen Sohn und ein reizendes Enkelkind. Sein Einkommen ermöglicht es ihnen, in einem großzügigen Bungalow zu wohnen, dessen parkähnlichen Garten sie leidenschaftlich pfegt.
Lucie und Paul streiten sich nicht, sie empfinden keine Abneigung gegeneinander, sie mögen sich auch nach 30 Jahren noch. Sie sind gut eingespielt, routiniert im Alltag, aber eigentlich leben sie nebeneinander her. Er geht in seiner Arbeit auf, sie weiß sich den langen Tag nicht recht zu füllen und wünscht sich, dass er öfter mal etwas mit ihr unternimmt. So könnte es immer weitergehen, es wäre nicht mehr das große Glück, aber lange noch kein Unglück.
Bis eines Tages opulente Rosensträuße für Paul abgegeben werden, zu Hause und in seiner Praxis, und manchmal liegen sie auch einfach auf der Kühlerhaube seines Autos. Paul hat eine junge Frau in Verdacht, eine Bedienung in einem Café, die ihn ansprach, weil er sie vor vielen Jahren einmal operiert haben soll.
Er verfolgt sie abends und sieht, wie sie als Straßenprostituierte ihre Dienste anbietet. Als er mit Lucie ein Konzert besucht, sitzt Lou (Leïla Bekhti) wenige Reihen entfernt von ihnen. Obwohl Paul sich von ihr belästigt fühlt, sucht er doch Kontakt zu ihr, empfindet Mitleid, wenn sie ihm von ihrem traurigen Schicksal erzählt. Je näher Paul der jungen Frau kommt (ohne, dass er mit ihr eine Liebesbeziehung hätte), desto stärker entfernt er sich von Lucie. Philippe Claudels Stärke ist es, diese zunehmende Entfremdung in prägnanten Szenen zu erzählen. Der Film gleicht einem kühlen Melodram, eher sezierend als ausschmückend, auf das Nötigste reduziert und dabei ohne Pathos auskommend. Kristin Scott Thomas drückt mit wenigen Blicken die Melancholie ihrer Figur aus. Sie spürt, dass ihr Mann auf Abwege gerät, doch er verweigert ihr das Gespräch. Als sie auf seinem Handy nachguckt, wen er angerufen hat, erschrickt sie vor sich selbst und vor der Gewissheit, dass es eine fremde Frau ist. Philippe Claudel hat schon einmal mit Kristin Scott Thomas gedreht, sie war die Hauptfigur in „So viele Jahre liebe ich Dich“. Die Britin hat mittlerweile in einer beachtlichen Reihe guter und auch erfolgreicher Filme mitgespielt, darunter „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“, „Der englische Patient“, „Der Pferdeflüsterer“ und „Gosford Park“. Sie verströmt gleichzeitig Distanziertheit und Leidenschaft und verstärkt jede ihrer Rollen durch ihre eigenwillige und starke Aura.
Die einzige Schwäche des Films ist die Faszination, die Lou auf Paul ausübt. Dass sich dieser beruflich erfolgreiche, arrivierte Mann von dieser Halbwelt-Schönheit so angezogen fühlt – man kann es glauben oder auch nicht. Am Ende überrascht einen der Film aber mit einem so unerwarteten Schluss, dass jeder Zweifel beseitigt ist. „Bevor der Winter kommt“ ist ein sehr schön gedrehtes Melodram mit Thriller-Qualitäten.