Lieber experimentieren oder auf sichere Bänke setzen? Je nach Antwort auf diese Frage lässt sich am Auftakttag des Hurricane-Festivals relativ einfach zwischen den beiden Hauptbühnen auswählen. Die Green Stage bietet dabei fast so etwas wie eine Rückbesinnung auf eine Zeit, als der Punk so ziemlich alle Konventionen in Frage stellte. Das ist in seiner Wirkung heutzutage noch immer spürbar und macht Festivals mit einem mehr oder weniger alternativen Musikangebot überhaupt erst möglich. Es ist aber auch ein wenig aus der Zeit gefallen – zumindest stilistisch.
Es ist an den Protagonisten, allzu heftiger Nostalgie Gegenwärtigkeit entgegenzuhalten. Und wenn es Orte gibt, an denen die Energie eines Auftritts die musikalische Finessen – oder viel mehr ihr Nichtvorhandensein – in den Schatten stellt, dann ist es die Bühne vor den Zehntausenden im Schlamm von Scheeßel – selbst wenn der Schlamm sich zu diesem Zeitpunkt noch in ungewohnt festeren Aggregatzuständen versteckt hält.
Eine Band, die das für sich auszunutzen weiß, sind die Donots, die am frühen Abend die Circle Pits kreisen lassen. Sie wollen Eskalation auf Rekordebene, es sollen sich möglichst viele, außerordentlich hemmungslose Rundtanzgruppen in der Masse bilden. Der Soundtrack dazu ist allemal geeignet, aber Sänger Ingo Knollmann und seine Bandkollegen wollen auch die Quadratur dieser Kreise: "Saufen gegen rechts" nennen sie das und meinen damit, in all der Partystimmung lässt sich durchaus auch Haltung zeigen.
Genau das zeichnet auch Feine Sahne Fischfilet aus, die Band die zwischen alten und neueren Punkheroen wie Offspring, Donots und Broilers perfekt aufgehoben ist. Inhaltlich stehen sie für Radikalität, auch wenn Sänger Jan Gorkow inzwischen davon freigesprochen wurde, selber handgreiflich gegen Nazis vorgegangen zu sein. Ihr Auftritt aber ist die Inszenierung der Revolte, die Bengalos brennen, die Schnäpse rinnen und die Wut bleibt dennoch unbetäubt.
The Offspring fiel 2016 ins Wasser
Mit den Broilers, den späteren Headlinern auf der selben Bühne, verbindet die Mecklenburger eine lange Freundschaft. Und beide Bands sind sicher Fans von The Offspring, die zwischen ihnen auf dem Podium steht. Die Kalifornier, deren Namen sich paradoxerweise mit Nachwuchs übersetzen lässt, sind zwar nicht die Gründerväter des Punks, aber als Vertreter einer zweiten Generation sicherlich Pioniere. Anders als Feine Sahne Fischfilet stehen sie aber auch dafür, wie sich eine zunächst unnachgiebige Haltung einer schleichenden Kommerzialisierung halbwegs dann doch öffnen kann.
Mitte der 80er-Jahre begannen sie ihre Karriere, und auch mit dem Abstand, den große Festivalbühnen nun mal zwischen Fans und Bands legen – es ist ihnen durchaus sichtbar ins Gesicht geschrieben. The Offspring zählten zu den Hurricane-Sturmopfern 2016. Als ein kompletter Spieltag nicht stattfinden konnte, fiel auch ihr Auftritt ins Wasser. Die meisten anderen Betroffenen holten ihre Shows bereits im Vorjahr nach, bei den Amerikanern kommt es aber offenbar auf ein Jahr mehr oder weniger nicht mehr an und sie nun erst zurück.
Von solchen Überlegungen wollen die Bands auf der Green Stage an diesem Nachmittag und frühen Abend vermutlich eher weniger wissen. Chvrches geben sich hemmungslos dem Pop hin, George Ezra haucht seinen Weltschmerz wirkungsvoll in die Welt hinaus und London Grammar vervielfachen ihre Lied gewordenen Innigkeiten selbstversunken. Nicht zuletzt solche Kontraste sind es, die ein Festival ausmacht, zumindest für diejenigen, die sich dem (noch) aufnahmefähig genug gegenübersehen.