Den Joseph Beuys fürs heimische Schlafzimmer? Den kahlen Flur mit einem Gerhard Richter aufpeppen? Das geht – zumindest für zwölf Wochen kann jeder Bremer die eigenen vier Wände mit derartigen Perlen schmücken. Kunst auf Zeit gibt es seit 40 Jahren in der Hansestadt, in der Graphothek der Zentralbibliothek. 3400 Grafiken, Fotografien, Malereien und Skulpturen wollen dort mitgenommen werden – leihweise. Am 18. November wird das Jubiläum mit der Schau „40 Jahre – 40 Werke“ begangen.
Fast nie treffen Max Ernst, Norbert Schwontkowski und Roy Lichtenstein an einem Ort aufeinander. Sie sind viel unterwegs und oft zu Gast in Bremer Arztpraxen, Wohn- und Arbeitszimmern. „Es gibt Wartelisten. Die Pop-Art ist gerade besonders beliebt. Größere, unhandliche Bilder sind aus rein pragmatischen Gründen nicht so begehrt“, sagt Barbara Lison, Direktorin der Stadtbibliothek. Sie ist stolz, Hausherrin einer der ältesten Kunstausleihen Deutschlands zu sein. Am 18. November ist es 40 Jahre her, dass die Graphothek die Türen öffnete. Die Bezeichnung ist selten, der Bestand mit 3400 Objekten aus der zeitgenössischen nationalen und internationalen Kunst beachtlich.
Nur die Artothek des Neuen Berliner Kunstvereins ist mit 4000 Objekten besser bestückt und trumpft mit einer 47-jährigen Geschichte auf. Insgesamt gibt es in der Republik rund 140 Ausleihen. Die Bezeichnung Graphothek weist auf den großen Bestand von Grafiken hin. In den 70er-Jahren gab es in Bremen einen Etat zur Anschaffung. Eine Jury aus Kunsthallen-Mitarbeitern, Kunstkennern und Bibliothekaren beriet, was gekauft werden könnte. „Es handelt sich um städtischen Besitz. Wir verwalten die Werke nur“, so Lison. Das Geld für weitere Käufe ist seit 1997 versiegt, der Bestand konstant. Skulpturen, Malereien und Fotografien auf Leihbasis, wieso eigentlich? „Die Idee war, die zeitgenössische Kunst vom Sockel zu holen, Berührungsängste abzubauen und sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen“, erklärt Lison. Anfassen, mitnehmen und wirken lassen. Kenner und Laien nutzen den Service, der simpel funktioniert. Der Katalog spuckt auf Knopfdruck aus, dass ein von Hanne Darboven gestaltetes Kalenderblatt vorrätig ist, die Offsetlithografie „Kanarische Landschaft“ von Gerhard Richter ebenfalls. Raussuchen, Bibliotheksausweis vorzeigen, eine Zusatzgebühr von zehn Euro zahlen und schon kann der Schatz für drei Monate die heimische Raufasertapete verschönern.
Die Fettzeitung von Joseph Beuys gehört zu den Raritäten, die nicht mehr mitzunehmen sind. „Er tränkte eine Ausgabe von ,Essen & Trinken‘ in Fett. Die ruht nun in einer Pappschachtel, jedes Blättern würde sie zerstören. Dennoch kam eine Journalistin extra aus Hamburg, um sie zu bestaunen“, erinnert sich Detlef Stein. Der Kunstwissenschaftler holt sich regelmäßig staubige Fingerkuppen, wenn er Schätze der Ausleihe aus den Fächern zieht. Seit sieben Jahren stellt er jeden letzten Mittwoch im Monat eines der Werke vor. Er enthüllt Geschichten, ordnet zeitlich ein, erklärt die Technik. Auf der Rückseite der schlichten Rahmen pappt ein vergilbter Zettel, auf dem der Ankaufspreis notiert ist. Das Kalenderblatt von Hanne Darboven wurde einst für 25 D-Mark erworben, der Richter für 300. In Auktionshäusern blättern Sammler inzwischen schwindelerregende Summen auf den Tisch, um einen Richter mit nach Hause zu nehmen. „Die Auswahl der Jury, die in den 70er-Jahren einkaufte, lässt auf großen Sachverstand schließen“, sagt Stein. Für die Jubiläumsausstellung, die vorher in der Landesvertretung Bremen in Berlin zu sehen war, hat der Kurator 40 Favoriten der Sammlung ausgewählt. Ein Richard Hamilton ist darunter, ein Plakatmotiv von Klaus Staeck vom Brandenburger Tor und eine Grafik des Verhüllungskünstlers Christo. Dessen Ansatz, Arbeiten im öffentlichen Raum zu inszenieren, damit diese frei für jedermann wahrnehmbar sind, bringt die Idee der Graphothek auf den Punkt: Kunst soll sich öffnen. Das Konzept geht auf: Neben Privatpersonen stöbern Vertreter von Banken und Praxen im Bestand. „Sogar die Städtische Galerie wurde fündig. Ein anderes Mal kam ein Künstler und hat eines seiner Werke für einige Wochen mitnehmen wollen“, erinnert sich Guntram Schwotzer, Mitarbeiter der Stadtbibliothek. Er wechselt auch gern die Motive an der heimischen Wand: „Derzeit hängt ein Alexander Calder bei uns, er passt so wunderbar ins Wohnzimmer. Das Zurückgeben wird wohl schwerfallen.“
Die Ausstellung „40 Jahre – 40 Werke“ von Mittwoch, 18. November, bis Dienstag, 12. Januar, Wallsaal der Zentralbibliothek. Vernissage am 18. November, 19 Uhr.