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Neu im Bücherregal Thomas Melles so trauriger wie brillanter Roman "Haus zur Sonne"

In seinem Roman "Haus zur Sonne" setzt sich Thomas Melle erneut mit seiner bipolaren Störung auseinander. Autobiografisch grundiert, hat Melle daraus eine brillante, düstere Fantasie gemacht.
06.09.2025, 06:00 Uhr
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Thomas Melles so trauriger wie brillanter Roman
Von Iris Hetscher

Thomas Melle ist 2016 ein Risiko eingegangen. Der Autor, zuvor durch Werke fürs Theater, als Übersetzer und durch seinen viel beachteten Roman "Sickster" (2011) bekannt geworden, schrieb über seine bipolare Störung. "Die Welt im Rücken" wurde (wie "Sickster") für den Deutschen Buchpreis nominiert und fürs Theater adaptiert. Nun hat Melle sich erneut literarisch mit seiner Erkrankung befasst, und auch "Haus zur Sonne" ist wieder von der Jury des Buchpreises für würdig befunden worden: Es taucht auf der aktuellen Longlist auf.

Das Buch ist von tiefer Trauer durchzogen, Trauer um ein verpasstes, von einer psychischen Erkrankung unmöglich gemachtes Leben. Erneut gibt es einen Ich-Erzähler, der lässt sich in das titelgebende "Haus zur Sonne" einweisen. Doch Melle verweilt nicht bei diesem Ansatz, er dreht sein Buch ins Düster-Fantastische. Der Ich-Erzähler wähnt sich am Ende: Er ist pleite, hat in einem manischen Schub seine Wohnung verwüstet, Freunde sind ihm nur wenige geblieben. Es ist aus für ihn, er ist "Asche", wie Melle schreibt.

Das "Haus zur Sonne" soll seine letzte Station sein. Es ist eine Art Hospiz, das der Staat zur Verfügung stellt, quasi für hoffnungslose Fälle. Hier trifft der Ich-Erzähler auf andere Verzweifelte, auf Vera, die erblindet, oder August, der sich Gewaltfantasien hingibt. Wer hier eincheckt, kann eine Zeit lang seine Sehnsüchte nach einem ganz anderen Dasein in Simulationen durchleben, kann heiraten, in ein anderes Geschlecht schlüpfen, sich mit den Staatschefs der Welt an einen Tisch setzen, irre erfolgreich und beliebt sein – nichts ist unmöglich, und die Halluzinationen werden immer krasser, je mehr man sich auf sie einlässt.

Doch wer wieder aus ihnen auftaucht, ist sich des eigenen Versagens, der eigenen vermasselten Existenz umso bewusster. Diese noch größere Leere und den Schmerz beschreibt Melle plastisch in den geradezu unerbittlich nebeneinandergestellten Kapitelchen. Er findet starke, klare Worte für diesen Teufelskreis aus wahnhaften Vorstellungen, verzweifelten Endzeitgedanken und bitter-satirischen Beschreibungen des Klinikalltags.

Das "Haus zur Sonne" mit seinen Mittelchen und Therapien wirkt wie eine Horrorklinik aus einer Dystopie – wie genau die Simulationen funktionieren, bleibt unklar, und vielleicht soll man sich auch ein bisschen an "Uhrwerk Orange" von Anthony Burgess erinnert fühlen. Denn das ist alles nicht nur eine freundliche Geste von Vater Staat, es gibt Nutznießer. Einen Weg heraus existiert übrigens nicht, am Ende steht zwingend eine Art Suizid, bei dem jeder und jede freundlich unterstützt wird. Doch als sich der Ich-Erzähler für eine Todesart entscheiden soll, kommen ihm, der zuvor tagelang mit Selbstmordfantasien zugebracht hat, Zweifel. Ist er wirklich fertig mit diesem Leben, das ihm bisher so lästig war?

Info

Thomas Melle: Haus zur Sonne. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 320 Seiten, 24 €.

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