Es gibt Dinge, die funktionieren nur mit Musik. Was wäre das nächste Hurricane-Festival, das im Schlamm versinkt, ohne sie? Wohl nicht viel mehr als ein ins Wasser gefallener Zeltausflug mit warmem Bier. Oder die ganze Nacht in einer prall gefüllten Diskothek? Dann vielleicht doch lieber Spieleabend. Die berühmte Duschszene in Alfred Hitchcocks "Psycho"? Ohne die wortwörtlich einschneidenden Klänge der Streicher wäre sie wohl längst vergessen. Der Grund für all das? Musik und Gesang lösen Emotionen aus – Gefühle des Glücks, der Ausgelassenheit, der Spannung und viele mehr.
In der Wissenschaft ist man sich sicher: Verbinden sich einzelne Töne zu Klängen und schließlich zu Musik, kann das vielfältige Auswirkungen auf den menschlichen Körper haben. Und zwar nicht nur beim Spielen selbst; alleine das Hören reicht dafür aus. Was aber, wenn man nicht in der Lage dazu ist, Trauer, Bedrohung oder Freude zu empfinden, wenn Musik erklingt, die üblicherweise genau das auslöst? Wenn Dur nicht mehr fröhlich und Moll nicht mehr traurig ist, wenn ein Tango nicht das Temperament anregt und Reggae nicht zum Zurücklehnen einlädt?
Drei bis fünf Prozent betroffen
Tatsächlich gibt es solche Menschen. Menschen, die beim Klang von Musik nichts von dem Beschriebenen empfinden, obwohl sie grundsätzlich durchaus in der Lage dazu sind, spezielle Gefühle mit bestimmten Aktivitäten zu verbinden. Man schätzt, dass es zwischen drei und fünf Prozent der Bevölkerung so gehen könnte. Dieses Phänomen nennt sich "musikalische Anhedonie". Der Name leitet sich ab vom griechischen Wort "h?don", das so viel wie "Freude" bedeutet. Die Anhedonie ist dessen Gegenstück, also Freudlosigkeit.
2016 haben Wissenschaftler aus Spanien sie genauer untersucht. Dazu teilten sie Menschen in drei Kategorien ein: Musikliebhaber, durchschnittliche Musik-Hörer und musikalisch möglicherweise nicht-reizbare Personen. Es zeigte sich, dass bei Letzteren körperliche Reaktionen auf die vorgespielte Musik gänzlich ausblieb – und zwar, obwohl ihr Gehirn durchaus in der Lage dazu wäre, auf Reize entsprechend zu reagieren. Weder schlug ihr Herz schneller, noch änderte sich die elektronische Leitfähigkeit ihrer Haut, wie es im Regelfall beim Musikgenuss zu erwarten wäre.
Keine Kultur ohne Musik
Ulrich Tadday ist Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bremen. Er sagt, Musik gehöre zur "conditio humana", also zu den Grundbedingungen des Menschseins. "Wir kennen weltweit keine einzige Kultur, die musiklos wäre", so Tadday. Tatsächlich weiß man, dass Menschen bereits vor gut 30.000 Jahren Musik machten. Das belegen Funde aus der Höhle "Hohle Fels" auf der Schwäbischen Alb in der Nähe von Ulm. Dort wurde das bisher älteste bekannte Instrument der Welt entdeckt, eine Flöte aus dem Knochen eines Gänsegeiers. Und das sei keinesfalls ein bloßes Klangwerkzeug gewesen, betont Tadday. Vielmehr seien Steinwerkzeuge benutzt worden, "um in gemessenen Abständen Löcher in den Knochen zu schaben, damit eine geordnete Tonfolge entsteht".
Tadday ist überzeugt, dass Rituale, die mit Musik in Verbindung stehen, heute überall auf der Welt existieren. "Menschen singen – entweder, weil sie den Tod beklagen oder die Geburt eines Kindes feiern, zum Arbeiten oder bei Festen", sagt er. Fehle einem Menschen der emotionale Zugang zur Musik, sei das erschütternd.
"Etwas außen vor"
Zu einem ähnlichen Schluss kommen auch andere Wissenschaftler. Die fehlende Fähigkeit zum Musikgenuss könne für betroffene Menschen "eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität bedeuten", heißt es in einer Studie des Berliner Centrums für Musikermedizin an der Charité Berlin. Und in einem Internetforum veranschaulicht ein Nutzer, der von sich selbst sagt, dass Musik ihn "noch nie besonders interessiert, geschweige denn, emotional bewegt" habe, das Phänomen mit einem Vergleich. Er fragt: "Würdest du das nicht auch merkwürdig finden, wenn jemand Essen grundsätzlich nicht mag und nur isst, um nicht zu verhungern?"
Das Gefühl, irgendwie merkwürdig zu sein, teilt der Verfasser mit anderen Betroffenen. Mit einigen davon hat das Online-Magazin "Vice" gesprochen. Hier berichtet ein junger Mann von seinem Eindruck, "durch die musikalische Anhedonie bei Freundschaften und in gesellschaftlichen Situationen etwas außen vor zu sein". Eine weitere Betroffene sagt: "Ich glaube schon, dass ich da einen wichtigen Teil des Menschseins verpasse."
Tatsächlich legen neuere Untersuchungen einen Zusammenhang zwischen der Empfindsamkeit für Musik und sozialer Interaktion nahe. So würden Menschen, deren Emotionen durch Musikhören angeregt werden, soziale Interaktion mehr genießen als solche, die Musik kalt lässt. Was der Auslöser für eine musikalische Anhedonie ist, ist nicht bekannt. Klar ist nur: Sie kann entweder angeboren sein oder beispielsweise infolge einer Hirnschädigung auftreten. Ein Betroffener berichtet zudem davon, nach dem Konsum von Cannabis plötzlich seine Liebe zur Musik verloren zu haben. Er sagt: "Schon verrückt, was in unseren Gehirnen passieren kann."