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Der Erste Weltkrieg stand lange im Schatten des Zweiten - 2014 haben ihm die Museen großen Platz eingeräumt Neuentdeckung im Supergedenkjahr

Im Supergedenkjahr hat der Erste Weltkrieg so viel Aufmerksamkeit bekommen wie lange nicht. Allen voran haben die Museen den Ersten Weltkrieg aufgegriffen und seine Bedeutung für die Menschen vor Ort herausgearbeitet – auch in Norddeutschland. Außer ihnen kann das niemand leisten, denn im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg gibt es für den Ersten keine Gedenkstätten. Warum eigentlich?
28.12.2014, 00:00 Uhr
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Von Yannick Lowin

Im Supergedenkjahr hat der Erste Weltkrieg so viel Aufmerksamkeit bekommen wie lange nicht. Allen voran haben die Museen den Ersten Weltkrieg aufgegriffen und seine Bedeutung für die Menschen vor Ort herausgearbeitet – auch in Norddeutschland. Außer ihnen kann das niemand leisten, denn im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg gibt es für den Ersten keine Gedenkstätten. Warum eigentlich?

Im Seelzener Stadtteil Dedensen schreibt der Lehrer Gottfried Wöhler die ersten Sätze in seine Kriegschronik. Rund 30 Kilometer entfernt in Hannover will Stadtdirektor Tamme per Plakaten und Zeitungsanzeigen „fest mit jeglichen Zweifeln aufräumen“, die die Bevölkerung gegen den Krieg hegen könnte. Und in Osnabrück lässt der vaterländische Frauenverband die Nadeln fliegen und strickt warme Socken, Wollmützen und Leibchen für die Soldaten an der Front.

Es sind Beispiele aus den Ausstellungen „Heimatfront Hannover“, „Eine deutsche Stadt im Ersten Weltkrieg – Osnabrück 1914-1918“ sowie „Der Weltkrieg 1914-1918 und seine Bedeutung für die Menschen in Seelze.“ Museen in der Region haben im Gedenkjahr den Ersten Weltkrieg für sich neu entdeckt. Rund 40 Ausstellungen zählt der Museumsverband für Niedersachsen und Bremen. Allein die Titel verraten, worum es den Ausstellungsmachern geht: die weltumspannende Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts auf die lokale Ebene herunterzubrechen und zu fragen, welche Bedeutung der Krieg für die Bevölkerung vor Ort hatte. Dazu haben die Museen haufenweise persönliches Material erhalten, ausgewertet und nun ausgestellt.

Dass sich Museen in Jubiläums- und Gedenkjahren stärker mit den jeweiligen historischen Ereignissen beschäftigen, gehört zum Geschäft. Im Historischen Museum Hannover habe man aber im Vorfeld des Supergedenkjahres 2014 (100 Jahre Erster Weltkrieg, 75 Jahre Zweiter Weltkrieg, 25 Jahre Mauerfall) darüber diskutiert, ob es eine Sonderausstellung zum Ersten oder Zweiten Weltkrieg geben sollte. „Den Zweiten hatten wir schon ausführlich behandelt. Jetzt war eine Ausstellung zum Ersten Weltkrieg überfällig“, sagt Andreas Pfahl, Kurator von „Heimatfront Hannover“, die noch bis zum 11. Januar zu sehen ist.

Kaum einer der Beteiligten hätte aber erwartet, was für einen Aufmerksamkeitsschub dieses Jahr dem Ersten Weltkrieg geben würde. Denn der Zweite Weltkrieg hat den Ersten überlagert, in der Forschung, aber vor allem im Gedenken. Die Gründe dafür, dass es keine Gedenkstätten gibt, die das Gedenken institutionalisiert haben und außerdem an der Aufarbeitung der Geschichte mitwirken – wie das bei den Themenfeldern NS-Herrschaft oder SED-Regime der Fall ist – sind vielfältig und haben auch mit der deutschen Identität zu tun.

Erstens, so Michele Barricelli von der Universität Hannover, hätten rechte Verbände und Parteien direkt nach Ende des Ersten Weltkriegs das Thema besetzt – der „Schmachvertrag“ von Versailles, die „Dolchstoßlegende“ und die Reparationszahlungen bestimmten die Debatten. Als die Nationalsozialisten den Ersten Weltkrieg für ihre Propaganda ausschlachteten, war das Gedenken dann endgültig mit rechtsextremer Ideologie vergiftet.

Zweitens blieb man, anders als in Frankreich, wo man nur vom „Grand Guerre“, dem großen Krieg spricht, von den unmittelbaren Schrecken des Massensterbens verschont; die Schlachten, der Stellungskrieg über vier Jahre (mit dem symbolhaften Verdun) – auf deutschem Boden existieren davon keine Spuren. „Wo also sollte man eine Gedenkstätte errichten?“, fragt der Historiker Barricelli. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs hätten sich aber auch deshalb stärker in die DNA von Franzosen und Briten eingeschrieben, weil sie mehr Opfer zu beklagen hatten als im Kampf gegen die Nationalsozialisten.

Und drittens „sind in der Bundesrepublik die Zeitzeugen des Ersten Weltkriegs in den 70er- und 80er-Jahren weggestorben, nachdem sie sich jahrelang ausgeschwiegen haben“, sagt Barricelli. Gleichzeitig sei der Mantel des Schweigens gerissen, der sich über die Zeit des NS-Terrors gelegt hatte: Häftlinge, Widerstandskämpfer und Vertriebene meldeten sich zu Wort, Kinder und Enkel fragten danach, was die Eltern beziehungsweise Opa und Oma im Krieg gemacht haben, und die NS-Forschung blühte auf.

Im Gedenkjahr 2014 übernahmen die Museen die Aufgabe der Gedenkstätten und leisteten Pionierarbeit bei der Aufarbeitung. Vielfach konzentrierten sich die Ausstellungen aber vor allem auf den Kriegsausbruch, sagt Rolf Spillkehr, Direktor des Museums für Industriekultur in Osnabrück. Für die Ausstellung „Eine deutsche Stadt im Ersten Weltkrieg – Osnabrück 1914–1918“ hat Spillkehr maßgeblich die notwendige Forschungsarbeit vorangetrieben. Allerdings merkt er an, dass noch viele wichtige Themen unbearbeitet seien: „Der Bedeutung der Kriegsgefangenen für die Tötungsmaschinerie konnten wir genauso wenig gerecht werden wie der Rolle der Juden.“ Doch um das Thema allein für Osnabrück aufzuarbeiten, bräuchte es schon ein umfassendes Forschungsprojekt zwischen Universität und Museum, so Spillkehr.

Ist die Lösung also eine Gedenkstätte für den Ersten Weltkrieg, die der Aufarbeitung dauerhaft Impulse gibt? Nicht unbedingt, findet Barricelli. Es gebe schon sehr viele Gedenkstätten und irgendwann werde das unübersichtlich für Bürger, Schüler und Politiker. Ihm schwebt etwas anderes vor: „Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Katastrophen. Wieso fasst man nicht die Ereignisse in einer Gedenkstätte für Opfer und Gewalt zusammen und stellt die Zusammenhänge dar zwischen Kolonialgeschichte, Erstem Weltkrieg, Zweitem Weltkrieg und deutscher Teilung?“

Auch Andreas Pfahl vom Historischen Museum Hannover hält eine separate Gedenkstätte für überflüssig. Dafür sollte der Erste Weltkrieg in den Museen mehr Platz finden. „Wenn wir unsere Dauerausstellungen in einigen Jahren umgestalten, wird das auch passieren“, sagt er.

Angesichts von Einsparungen in nahezu allen öffentlichen Haushalten glaubt jedoch kaum jemand daran, dass irgendjemand den Geldtopf für eine neue Gedenkstätte öffnet. Dazu passt das aktuelle Gedenkstättenkonzept der Bundesregierung, das den Ersten Weltkrieg nicht einmal erwähnt.

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