Stuhr-Brinkum. Die Übergabe des Abiturzeugnisses sollte ein freudiger Anlass im Leben eines jungen Menschen sein. Doch die Rede des Schulleiters Mirko Truscelli bei der Entlassungsfeier des diesjährigen Abiturjahrgangs der Kooperativen Gesamtschule (KGS) Brinkum hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack bei Schülern und Eltern. Wie berichtet, war Truscelli bei seiner Ansprache am Sonnabend auf dem Gut Varrel unter anderem auf Abiturienten eingegangen, die sich am "Chaostag" stark betrunken hätten, sodass für einen Schüler ein Krankenwagen gerufen worden sei. Dies hatte er vor dem Hintergrund, das Abitur sei eine Reifeprüfung, kritisiert.
"Uns wurde die soziale Reife von ihm abgesprochen und unser Verhalten der Erziehung unserer Eltern in die Schuhe geschoben", sagt Jahrgangssprecherin Sarah Techentin. Das Publikum habe gebuht, einige Eltern seien aufgestanden und gegangen. "Nur etwa einen Satz hat er sehr neutral zu unserem bestandenen Abitur gebracht", sagt Techentin. Dass es keine Studienfahrten gab, Homeschooling stattfinden musste und mehrere Lehrer ausgefallen waren, sei unerwähnt geblieben.
Die Jahrgangsvertretung hatte im Frühjahr die Planungen für den Chaostag, wenn der Abiturjahrgang traditionell an der Schule das Zepter in die Hand nimmt, eingereicht. "Wir mussten sehr ringen, dass es den Chaostag gibt", sagt die 19-Jährige. Dieser sei "relativ moderat abgelaufen", sagt Joshua Sieberg aus der Jahrgangsvertretung. Klar hätten einige Schüler Alkohol getrunken, nicht aber vor anderen Schülern und es sei nichts kaputt gegangen, auch der Hausmeister sei zufrieden gewesen. Der besagte Krankenwagen sei nicht benötigt worden, sagt Sarah Techentin, die auch Schulsanitäterin ist: "Wir konnten dem Schüler helfen und ihn nach Hause bringen." Vom Schulleiter habe es daraufhin die "Gelbe Karte" und eben die Rede am Tag der Zeugnisvergabe gegeben.
Gefühl eines "Rachefeldzuges"
"Ich fand es unerträglich", sagt auch Karim Hakim. Er ist Vater eines Abiturienten und selbst Lehrer in Bremen. Eigentlich war es für ihn ein freudiger Anlass auf dem Gut Varrel, doch: "Ich fand es schade, da zu sein und dem beizuwohnen". Die Rede sei zu einer Abrechnung mit den Abiturienten geworden. "Es wirkte wie ein Rachefeldzug", sagt Hakim. Stuhrs Bürgermeister Stephan Korte hatte versucht, die Stimmung wieder ins Lot zu bringen. "Er hat uns wirklich gratuliert und von den wichtigen Dingen geredet", beschreibt Sarah Techentin. Der Rathauschef sagt auf Nachfrage: "Ich habe das aus meiner Sicht Notwendige gesagt und ich werde ein persönliches Gespräch mit Herrn Truscelli führen." Inzwischen hat sich ein anonymes Schreiben verbreitet, das unserer Redaktion vorliegt. In diesem heißt es, der Tenor nach der Veranstaltung sei gewesen: "Besser keinen Schulleiter als so einen".
Das Schreiben hat auch Mirko Truscelli erreicht, für den es nach einem Jahr im Amt die erste Abiturientenentlassung an der KGS war. Ihm zufolge sind in der Mottowoche immer wieder Abiturienten aufgefallen, die alkoholisiert im Unterricht saßen, und es sei zu einem "merklich erhöhten unentschuldigten Fehlen gekommen". Das Haupttreppenhaus habe gesperrt werden müssen, da im Gebäude Wasserbomben geworfen wurden, wodurch Rutschgefahr bestanden hätte. All dies hätten jedoch nicht alle Schüler "und wahrscheinlich auch nicht eine Mehrheit" zu verantworten. "Wenn ich die Rede noch einmal halten würde, hätte ich dies an den Anfang gehoben", sagt Truscelli. Derlei Kritik müsse eine Gesellschaft jedoch grundsätzlich aushalten können.
Truscellis Vorgänger Michael Triebs war zwölf Jahre Schulleiter der KGS. In dieser Zeit seien Chaostage auch schon mal etwas aus dem Ruder gelaufen, nur das sei direkt mit den Schülern geklärt worden, sagt Triebs. In einem Fall habe er eine kurze Bemerkung bei der Abschlussveranstaltung fallen lassen. "Es ist ein Tag der Schüler, sie haben dafür lange gearbeitet und sollten so etwas nicht hören", sagt Triebs, der noch gute Verbindungen zur Lehrer- und Schülerschaft pflegt. Auch die Eltern hätten viel Zeit, Nerven und Geld in die Schulbildung ihrer Kinder investiert.
Gesprächsrunde zu Chaostagen
Mirko Truscelli möchte sich nun mit allen Beteiligten zusammensetzen, um die Rahmenbedingungen für zukünftige Chaostage an der Schule festzulegen. Er werde an die Sache ergebnisoffen herangehen. "Für das, was passiert ist, werde ich in Zukunft keine Verantwortung übernehmen", sagt er.
Die Abschlussrede sei dabei "nur die Spitze des Eisbergs", schildert Sarah Techentin: "Die Beziehung zwischen Schulleiter und Schülern und zwischen Schulleiter und Lehrern ist schlecht." Einige Lehrkräfte würden sich dauerhaft krank melden oder die Schule verlassen, ist aus Schulkreisen außerdem zu vernehmen. Truscellis Führungsstil wird in der Schülerschaft vielfach als autoritär wahrgenommen, was wie ein Gegensatz zu den Videos von ihm auf der Plattform Tik Tok im Namen der KGS wirkt. Die Versetzungen und Krankheitsfälle hätten vielerlei Gründe, sagt Truscelli. Etwa die hohe Belastung infolge der Corona-Pandemie oder private Gründe wie Erbschaften oder lange Arbeitswege. Er betont: "Alle Versetzungswünsche sind freiwillig geschehen."
Sarah Techentin bemängelt, dass beinahe in den Hintergrund gerückt sei, wie viele herausragende Leistungen der Jahrgang mit fast 90 Abiturienten erbracht hat. Neben einer Ehrung mit dem Sozialpolitikpreis gab es zwei Chemiepreise, einen in Physik und die zwei Jahrgangsbesten mit 1,0 wurden geehrt. Zudem war ein Preis für soziales Engagement zweifach vergeben worden. "Ich bin ordentlich stolz auf die erbrachten Leistungen", sagt Mirko Truscelli. Er habe seine Kritik den Glückwünschen vorausschicken wollen. "Auf jeden Fall sind die schulischen Leistungen der Abiturientinnen und Abiturienten, gerade in den schweren Zeiten, die diese erlebt haben, aller Ehren wert. Dies meine ich wirklich und von ganzem Herzen so. Wenn bei der Abiturverleihung in diesem Zusammenhang der Eindruck entstanden ist, dass ich die schulischen Leistungen der Abiturientinnen und Abiturienten nicht würdigen würde, so tut mir dies von ganzem Herzen leid, denn diesen Eindruck wollte ich bestimmt nicht vermitteln", schreibt der Schulleiter als Reaktion auf das anonyme Schreiben.