Die 60 Steine, die in acht Reihen zu einem dichten Feld zusammengefügt sind, sieht man meist nur im Vorbeifahren. Dabei steht das Mahnmal Obernheide für das Erinnern an das wohl dunkelste Kapitel deutscher Geschichte und auch dafür, dass sich die durch die Nationalsozialisten verübten Grausamkeiten nicht nur irgendwo in weiter Ferne, sondern auch in unmittelbarer Nähe abgespielt haben. Um die Erinnerung an die rund 800 jüdischen Frauen, die zur Zwangsarbeit im Lager Obernheide eng zusammengepfercht leben mussten, wach zu halten, findet jedes Jahr am Buß- und Bettag der Gedenkgang zum Mahnmal Obernheide statt. Für den diesjährigen Mittwoch, 20. November, haben erneut Schüler der Lise-Meitner-Schule Texte vorbereitet, die sich mit dem Schicksal der Frauen von Obernheide beschäftigen, aber auch aktuelle politische Entwicklungen thematisieren.
Das Lager Obernheide war von September 1944 bis April 1945 ein Außenkommando des Konzentrationslagers Neuengamme bei Hamburg. Die 500 ungarischen und 300 polnischen Jüdinnen waren zunächst in der Hindenburg-Kaserne in der Bremer Neustadt untergebracht, nachdem diese ausgebrannt war, kamen sie nach Obernheide. Von dort wurden sie täglich zu Trümmerräumungsarbeiten und in Betonsteinwerke nach Bremen getrieben. Den Weg vom Lager Obernheide bis zum Stuhrer Bahnhof legten die Frauen zu Fuß zurück, sie trugen nur dünne Häftlingskleidung und teilweise Holzschuhe. Als die Bahnstrecke zerstört war, mussten die Gefangenen den ganzen Weg nach Bremen und zurück zu Fuß bewältigen.
Geschlagen und getreten
Die Frauen wurden getreten und geschlagen, waren ausgehungert und entkräftet. Mindestens zehn Lagerinsassinnen starben an den erlittenen Qualen. Als sich im April 1945 britische Truppen Bremen näherten, räumte die SS das Lager und brachte die Frauen in das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Dort starben viele weitere der Zwangsarbeiterinnen von Obernheide. Eine der wenigen Überlebenden ist Lilly Kertesz. 1924 in Ungarn geboren, wurde sie kurz vor ihrer Verlobung ins Ghetto und von dort nach Auschwitz, Bremen und Obernheide gebracht. Nach ihrer Befreiung in Bergen-Belsen zog Lilly Kertesz später nach Israel. In ihren 1994 veröffentlichten Erinnerungen beschreibt sie ihre Deportation und die Lagerwirklichkeit.
"Aus ihren Erinnerungen wird auch zur Einführung gelesen", sagt Nina Bernard zum Programm des diesjährigen Gedenkgangs. Sie ist Lehrerin an der Lise-Meitner-Schule (Kooperative Gesamtschule Stuhr-Moordeich) und bereitet jedes Jahr mit den jeweiligen Gymnasiasten des zehnten Jahrgangs mit dem Profil Kunst und Gesellschaftswissenschaften den Gedenkgang vor. Aktuell seien es 27 Schüler, die durch die Wahl des Profils die Möglichkeit hätten, sich intensiv auch mit dem Thema Judenverfolgung auseinanderzusetzen. Im Fall des Lagers Obernheide komme der lokale Bezug dazu. "Es geht auch um Einzelfälle und nicht um eine große Gruppe. Das Thema reicht dadurch sehr nah an die Schüler heran", sagt Nina Bernard.
Texte von Lilly Kertesz
Die Gedenkfeier, zu der die Gemeinde Stuhr zusammen mit den Stuhrer Kirchengemeinden und der Lise-Meitner-Schule einlädt, beginnt um 11 Uhr am Alten Stuhrer Bahnhof an der Blockener Straße. Zur Einführung werden die Schüler die Texte von Lilly Kertesz in einer Art Tagebuchform vortragen, so Nina Bernard. Anschließend legt die Gruppe den etwa 3,5 Kilometer langen Weg zum Mahnmal Obernheide zu Fuß zurück. "Ziel des Gedenkgangs ist es, an die erlittenen Leiden der Lagerinsassinnen zur Zeit des Faschismus in Deutschland und in Stuhr zu erinnern, den Frauen von Obernheide und allen Opfern von Krieg und Gewalt zu gedenken und auf die Verpflichtung für ein friedliches Zusammenleben hinzuweisen", teilt die Gemeinde Stuhr mit.
Dass ihr Blick nicht nur auf die Vergangenheit gerichtet ist, werden auch die Zehntklässler bei der Ankunft am Mahnmal deutlich machen. "Dort wird es um die aktuelle Situation gehen", sagt Nina Bernard. Es sei den Schülern wichtig, auch den Rechtsruck und die AfD zu thematisieren. "Ihnen ist es auch wichtig, ihre Mitschüler anzusprechen", ergänzt die Geschichtslehrerin. Denn am Gedenkgang nehmen nicht nur die 27 Profilschüler teil, ebenso laufen die weiteren Zehntklässler der Lise-Meitner-Schule sowie zwei Klassen der KGS Brinkum mit. Zur Einführung in das Thema wird an der Lise-Meitner-Schule auch in diesem Jahr ein Film über die Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen gezeigt. Es seien entsetzliche Szenen zu sehen, auch Leichenberge, so Nina Bernard. Dennoch habe man sich wieder dafür entschieden, die Aufnahmen zu zeigen, um den Schülern zu vermitteln, wie ernst das Thema ist.
Am Mahnmal werden außerdem Bürgermeister Stephan Korte und Constanze Lenski, Pastorin der Kirchengemeinden Brinkum und Seckenhausen, sprechen. Die Gedenkfeier dort soll gegen 11.45 Uhr beginnen. Für die Rückfahrt vom Mahnmal zum Stuhrer Bahnhof werden Busse bereitstehen. Ausdrücklich sind alle Interessierten zum gemeinsamen Gedenken eingeladen, betont die Gemeinde. Da man im Rathaus wieder mit vielen Teilnehmern rechnet, wird die Obernheider Straße zwischen der Straße Kronsbrook und der Delmenhorster Straße von etwa 11 bis 12.30 Uhr für den Durchgangsverkehr gesperrt.