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Nach schwerem Unfall mit Geisterfahrer „Wir hatten echt Schwein“

Familie Fernandez kämpft sich nach einem schweren Autounfall auf der A 1 im vergangenen Februar zurück ins Leben. Nun hat sie erstmals ihre Retter getroffen.
26.01.2020, 19:50 Uhr
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„Wir hatten echt Schwein“
Von Alexandra Penth

Stuhr/Groß Mackenstedt. Eine Stunde des 17. Februar 2019 fehlt in der Erinnerung von Jesus Fernandez. Da sind nur Sequenzen, die ein unvollständiges Bild ergeben. Dass die Fahrzeuge vor ihm abrupt ausscheren und das Auto dann auf ihn zusteuert, er nach dem Aufprall seinen Sohn Levi trösten will, aber nur dessen Beine auf dem Beifahrersitz ertastet. Dass er seiner Frau auf dem Rücksitz helfen möchte, dann aber merkt, dass er sich nicht bewegen kann und seine Beine eingeklemmt sind. Er durch das Fenster des zerstörten Autos sieht, dass sich draußen zwei Frauen um seine beiden Kinder kümmern. Um 14.35 Uhr geschah der Unfall, erfuhr Jesus Fernandez später. Erst im Krankenhaus setzte die Erinnerung wieder ein.

Ein Geisterfahrer hatte das Auto der Familie Fernandez an jenem Sonntag auf der A 1 zwischen Stuhr und Groß Ippener in Richtung Osnabrück erfasst. Der 81-Jährige starb noch am Unfallort. Jesus Fernandez und seine Ehefrau Maike Fernandez schwebten in Lebensgefahr, ihre Kinder Nala und Levi waren stark verletzt. Ein weiteres Fahrzeug wurde in den Unfall verwickelt, beide Insassen wurden leicht verletzt (wir berichteten).

Fast ein Jahr später ist für die Familie Fernandez ein Alltag eingekehrt, der ein anderer ist als vor dem Unfall. „Man träumt noch manchmal davon“, sagt Maike Fernandez, zieht ihren achtjährigen Sohn Levi dicht an sich heran und streicht über seinen blonden Schopf. Die zweijährige Tochter Nala sitzt auf dem Arm ihres Vaters und sieht sich mit großen Augen um. In der Fahrzeughalle der Groß Mackenstedter Ortsfeuerwehr sind die Ersthelfer vom Unfallort und Einsatzkräfte von Polizei, Rettungsdienst und der Ortsfeuerwehr versammelt. Die Familie Fernandez trifft das erste Mal auf ihre Helfer, später wird gemeinsam gegrillt. Der Feuerwehrverband hat den acht Ersthelfern im Zuge des Wiedersehens eine Auszeichnung verliehen.

Als es zum Unfall kam, fuhren Silvia und Axel Kalmey auf dem linken Fahrstreifen, direkt hinter dem Wagen der Familie Fernandez. Christiane und Clemens Wollmann parallel zu ihnen auf der rechten Spur. Beide Fahrer legten eine Vollbremsung hin. Dann ging alles ganz schnell. Die Männer eilten den Erwachsenen zur Hilfe, Christiane Wollmann und Silvia Kalmey kümmerten sich um die Kinder, fuhren im Rettungswagen mit in die Kinderklinik, während Jesus und Maike Fernandez per Hubschrauber ins Krankenhaus kamen. „Die Kinder haben geweint, waren aber sehr ruhig und gefasst, standen wahrscheinlich unter Schock“, erinnert sich Silvia Kalmey. Beide Helferinnen fallen sich in der Fahrzeughalle der Groß Mackenstedter Feuerwehr in die Arme, als sie sich sehen. Damals hätten sie einander Kraft gegeben, sagen sie. Gezögert hatten sie nicht. „Da hilft man einfach“, sagt Christiane Wollmann. Beide Frauen nahmen später Kontakt zu Angehörigen der Familie Fernandez auf, um zu erfahren, wie es den Unfallopfern ergangen ist. Das erste Telefonat mit Familienvater Jesus Fernandez sei sehr tränenreich verlaufen, erst recht das Kennenlernen am Tag der Feier für die Helfer, sagt Silvia Kalmey.

Auch die Feuerwehr wusste nicht, wie es den schwer verletzten Eltern geht. Als ein Dankesbrief mit der Nachricht eintraf, dass alles überstanden sei, war die Erleichterung bei den Rettern groß, die mit 29 Einsatzkräften vor Ort waren. „In der Regel bekommt man keine Rückmeldung, wie es den Verletzten geht“, sagt Gemeindefeuerwehrsprecher Christian Tümena. Der Unfall sei auch an den Helfern nicht spurlos vorbei gegangen. Tümena selbst war vor Ort. Als er mitbekam, dass zwei kleine Kinder verletzt sind, habe er einen Moment „kräftig durchatmen müssen“, um fortzufahren. Er betont, dass das Verhalten der Ersthelfer vorbildlich gewesen sei.

Freya Bohling und Björn Mehring saßen in dem anderen Auto, das in den Unfall verwickelt war. Sie hatten sich aus dem Auto befreien können und hinter die Leitplanke gestellt, bis der Rettungsdienst eintraf. Die Unfallstelle, die so markant ist, weil sie gegenüber der Rastanlage liegt, passiert Björn Mehring jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit. Ihn überkomme dabei jedes Mal „ein komisches Gefühl“.

Narben sind bei Familie Fernandez zurückgeblieben. Körperliche und seelische. Die Bremer haben psychologischen Beistand, dennoch verfolgt das Erlebte sie im Alltag. Maike Fernandez merkt an ihrer kleinen Tochter, dass sie auf jedes Feuerwehrauto, jeden Rettungswagen reagiert. Der Sohn schweige meist zum Unfall. Ihre Schwiegereltern hatten sich um die Kinder gekümmert, als Maike Fernandez drei Monate im Krankenhaus war, lange auf der Intensivstation. Daran, was nach dem Aufprall auf der Autobahn geschah, erinnert sich Maike Fernandez nicht. An die Zeit davor schon: Die 39-Jährige und ihre Familie waren auf dem Weg zum Geburtstag ihrer Cousine.

Maike Fernandez fährt seit dem Unfall kein Auto. Ihr Ehemann Jesus Fernandez dagegen hat sich nach fünfmonatiger Reha sofort wieder hinters Steuer gesetzt, wie er erzählt. Als freiberuflicher Biologe müsse er mobil sein. Erst jetzt beginne er damit, das Erlebte richtig aufzuarbeiten. „Anfangs habe ich zu viel im Kopf gehabt: Was mit meiner Frau passiert und den Kindern. Jetzt, da man in den Alltag rein rutscht, holt einen das ein“, sagt der 45-Jährige. Schlafen könne er ohnehin nicht viel, sein Rücken schmerze stark nach einer schweren Wirbelverletzung durch den Unfall. Der Familienvater ist aber dankbar. Dafür, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist. Daher platzt es aus ihm heraus: „Wir hatten echt Schwein.“

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