An die Tage, die ihr Leben geprägt haben, kann sich Nurhan Dakhil bis heute im Detail erinnern. Jedes Datum ist da präsent. Als 14-Jährige kam die junge Irakerin im Frühjahr 2016 mit vielen weiteren Flüchtlingen nach Ganderkesee. Viereinhalb Jahre später hat sie einen Schulabschluss und steht am Beginn einer Ausbildung als Pflegefachkraft. „Sie verkörpert Angela Merkels Satz 'Wir schaffen das' in geradezu beeindruckender Manier“, sagt Daniela Wolff, Sprecherin der Orthopädischen Fachklinik Stenum – Nurhans künftigem Ausbildungsbetrieb.
Am 3. August 2014 beschließt die Familie, aus ihrem Heimatdorf Sinjar vor den Truppen des IS ins Gebirge zu fliehen – mit fünf Geschwistern, der hochschwangeren Mutter und der Großmutter, die Diabetikerin und zudem durch einen Schlaganfall gehandicapt ist. Nurhan hat große Angst, von den Truppen verschleppt zu werden, wie es einer Freundin von ihr ergangen ist, wie es das Schicksal vieler Mädchen und junger Frauen ist. „Einige Tage hatten wir nichts zu essen und kaum etwas zu trinken“, berichtet sie. In den Bergen habe ein großes Durcheinander geherrscht. Dann schlägt sich die Familie über Syrien bis nach Kurdistan (Nordirak) durch, wo sie zunächst in einem Zelt unter einem Baum im Garten lebt, weil alle Unterkünfte belegt sind. Als die Mutter am 27. August einen weiteren Sohn entbindet, erhält die Familie ein Zimmer.
Fußmärsche durch den Schnee
Im November erfolgt der Umzug in ein überfülltes Flüchtlingscamp im Nordirak. Von dort aus setzt sich die Odyssee über die Türkei und Griechenland fort – zu Fuß, per Bus oder Schiff. Nurhan berichtet von stundenlangen Fußmärschen durch den Schnee. In Griechenland geht ihr zwölfjähriger Bruder verloren, der erst acht Monate später wieder zur Familie stößt. Über Mazedonien und Kroatien führt der Weg dann Anfang Januar 2016 nach Deutschland, nach Ganderkesee, wo die Dakhils eine Zeit lang in dem großen Zelt leben, das die Gemeinde im Stadion am Habbrügger Weg errichtet hatte.
„Am 22. Februar 2016 war mein erster Schultag in der Oberschule Ganderkesee“, erinnert sich Nurhan. „Ich konnte zwar hören, aber nichts sagen.“ Zu dieser Zeit sprach sie nur ihre Muttersprache Jesidisch und Arabisch, das sie im Irak in der Schule gelernt hatte. Kein Wort Englisch, kein Wort Deutsch. Aber auch die Familien von Fritz-Werner Bergmann und Siegfried Preuß kümmerten sich intensiv um die Flüchtlinge, unterstützen Nurhan etwa in Deutsch und Mathematik.
Die Frage nach einer beruflichen Perspektive hat sich Nurhan erst in Deutschland gestellt. „Im Irak ist es eher üblich, dass die jungen Frauen mit 18 Jahren heiraten. Da werden nur wenige Gedanken an eine Ausbildung und die damit verbundenen Kosten verschwendet.“ Aber sie betont auch, dass ihre Eltern von vornherein ein anderes Bewusstsein gehabt hätten – auch wenn die Familie keineswegs begütert gewesen sei. So habe der Vater mit wechselnden Arbeiten den Lebensunterhalt verdient: „Teilweise haben wir ihn zwei Monate überhaupt nicht gesehen.“
Erste Auszubildende in Stenum
Nachdem sie zunächst ein Schulpraktikum absolviert hatte, entschied sie sich nach dem Hauptschulabschluss für ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) an der Orthopädischen Fachklinik in Stenum. Und das mündet nun zum 1. Oktober in eine Ausbildung zur Pflegefachfrau. „Nurhan ist unsere erste Auszubildende überhaupt“, erklärt Pflegedienstleiterin Ingeburg Masukowitz. Möglich macht dies eine Reform in der Pflegeausbildung, die sogenannte „Generalisierte Pflege“. „Bislang durften wir keine Gesundheits- und Krankenpfleger ausbilden, weil wir als Spezialklinik nicht alle Fachbereiche abdecken konnten“, sagt Masukowitz, die in Stenum nur als „Schwester Ingeburg“ bekannt ist. Doch nun seien die ersten beiden Ausbildungsjahre für alle gleich, erst im dritten Jahr erfolge die Spezialisierung. Für die Klinik sei das ein großer Gewinn, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass sich in den kommenden Jahren viele langjährige Pflegekräfte in den Ruhestand verabschieden würden. Auch Auszubildende aus anderen Betrieben würden in Stenum ihren Krankenhaus-Einsatz ableisten.
Inzwischen lebt die zehnköpfige Familie Dakhil in Schierbrok, und auch Nurhans Vater hat in Deutschland wieder Arbeit gefunden. Als älteste Tochter hat sie neben der Arbeit viele häusliche Pflichten zu erledigen – aber es ist gut, wie es ist, sagt sie. Aus dem verängstigten, verschüchterten Flüchtlingsmädchen ist inzwischen eine selbstbewusste junge Frau geworden, die sagt, was sie denkt. Ihr Deutsch ist beeindruckend gut. „Ich bin Jesidin, schreiben Sie das!“, gibt sie unserer Zeitung zum Abschluss mit auf den Weg. In den Irak möchte Nurhan nicht zurück: „Höchstens, um meine Großmutter mütterlicherseits zu besuchen, die noch immer dort lebt.“