Landkreis Osterholz. Lüften, lüften, lüften ist die Devise, die der niedersächsische Kultusminister Grant Hendrik Tonne in Zeiten der Pandemie an die Schulen im Land ausgegeben hat. Denn wo schlecht gelüftet wird, steigt das Risiko einer Corona-Infektion, da die sogenannten Aerosole sich dann besser verteilen können. Entsprechend stünden die Fenster bei ihnen quasi permanent offen, teilen die Schulen mit. Doch mit Herbst und Winter kommen nun kalte Zeiten. Tonnes Empfehlung dafür: Auf 20 Minuten Unterricht sollen im Wechsel fünf Minuten Lüften folgen. Dies sei eine handhabbare Lösung, die sich gut in den Ablauf einer Schulstunde integrieren lasse, hatte Tonne erklärt.
Die Reaktion von Silke Oetjen auf Tonnes Ansage fällt pragmatisch aus. Die Leiterin des Ritterhuder Gymnasiums sagt: „Wir wissen, dass das nicht optimal ist, aber wir müssen das Beste daraus machen und abwarten, wie sich alles entwickelt.“ Sorgen, dass die Lüftungspausen den Unterrichtsplan durcheinander bringen, hat sie nicht. Die Lüftungspausen könnten in den Unterrichtsverlauf eingepasst werden. Die Eltern seien über die Situation informiert worden. Den Schülern sei außerdem zum Zwiebellook geraten worden. So könnten sie je nach Raumtemperatur eine Kleiderschicht mehr oder weniger tragen.
„Wenn es zu kalt wird, müssen die Schüler ihre Jacken anziehen“, hält auch Oetjens Kollege Ralf Willert, Leiter der Haupt- und Realschule Moormannskamp, die Lüftungsintervalle nach Tonnes Faustregel „20-5-20“ für vertretbar. Außerdem seien die Winter in den Vorjahren nicht so kalt gewesen, zeigt er sich optimistisch. Aber sollte es frostig werden, „dann wird es schwierig“, räumt er ein.
Auch an der Kooperativen Gesamtschule (KGS) in Hambergen würden sie die Vorgaben aus Hannover umsetzen, teilt Gitta Brede, auf Nachfrage mit. Derzeit sei das noch vertretbar und gehe ganz gut. Brede kann sich aber nicht vorstellen, wie es in der kommenden kälteren Jahreszeit funktioniert. „Das wird eine Herausforderung“, glaubt sie. Es sei eine Abwägung zwischen der Ansteckungsgefahr und der Belastung durch das Lüften. Einzelne Schüler seien nicht begeistert. „Allgemein haben die meisten aber Verständnis und nehmen es gelassen“, lobt Gitta Brede die Schüler. Einzelne Eltern fänden das Vorgehen allerdings ebenfalls nicht gut.
„Die Kinder kommen mittags völlig verfroren nach Hause“, berichtet Ilka von der Heide, Vorsitzende des Schulelternrats am Ritterhuder Gymnasium. Zugluft und fehlende Bewegung setzten den Kindern zu. Dabei dürften die Schüler sogar Decken in den Unterricht nehmen. „Die Eltern sind besorgt“, so von der Heide. Der Krankenstand unter Schülern und Lehrern sei höher als sonst. „Pro Klasse sind fünf bis sechs Kinder krank“, habe sie erfahren. Und es sei noch nicht Winter. Die Eltern wären froh, wenn doch noch eine technische Möglichkeit als Alternative für die 20-5-20-Regel gefunden würde. Aber: „Anscheinend gibt es derzeit keine andere Lösung.“
Und so erklärt etwa Ritterhudes Bürgermeisterin Susanne Geils: „In erster Linie geht es doch wohl darum, ein weiteres Ausbreiten der Pandemie zu verhindern.“ Wie das zu geschehen habe, würden Land und Bund vorgeben: „Für unsere Schulleitungen ist somit der aktuelle Rahmen-Hygieneplan ,Corona – Schule‘ maßgeblich“, so Geils.
Mehr Lärm durch offene Fenster
Bei den Schülern selbst findet Grant Hendrik Tonnes 20-5-20-Regel ein geteiltes Echo. Gustav Grünthal, Sprecher des Kreisschülerrats, erklärt auf Anfrage der Redaktion, es sei prinzipiell richtig, für regelmäßigen Luftaustausch zu sorgen. An der IGS Osterholz-Scharmbeck, deren Oberstufe Grünthal besucht, beobachte die Schülervertretung, dass immer häufiger gegen die sogenannten AHA-Regeln verstoßen werde: Abstand, Hygiene, Alltagsmasken. Da sei die Raumlüftung ein wichtiger Beitrag. Sie sei aber kein Allheilmittel.
„Der Unterricht wird anfälliger für Störungen, zum Beispiel durch Lärm von draußen und das führt zu Konzentrationsschwächen“, gibt er zu bedenken. Auch mache die zunehmende Kälte vielen von ihnen zu schaffen. Auch wenn es sich dabei um letztlich zumutbare Einschränkungen im Dienste der Pandemie-Eindämmung handele, könne das Lüften nicht allein zur Corona-Prävention beitragen, findet Grünthal. „Wir erwarten daher von Lehrern und Eltern, immer wieder die Wichtigkeit anderer Hygienemaßnahmen wie des regelmäßigen Hände-Desinfizierens und des ordnungsgemäßen Tragens von Schutzmasken zu betonen.“
Der Landkreis Osterholz lehnt als Schulträger eine Beurteilung der 20-5-20-Regel ab. Es sei Angelegenheit der Schulen, den Corona-Alltag im Winter zu organisieren, teilt Verwaltungssprecherin Jana Lindemann mit. Die Kreisverwaltung habe dafür gesorgt, dass sich die genutzten Räume über die vorhandenen Fenster ausreichend lüften lassen. Das gelte für sämtliche Schulen in Landkreis-Trägerschaft. „Über einige Fenster ist in jedem Raum auch eine Stoßlüftung möglich.“
Grundsätzlich sei eine Stoßlüftung unter dem Gesichtspunkt des Energiesparens und des Luftaustauschs „deutlich besser als die dauerhafte Kipplüftung“, erklärt die Landkreissprecherin, ohne Prognosen zu Energieverbrauch und Betriebskosten abzugeben. Aktuell seien einige Räume der Berufsbildenden Schulen (BBS) Osterholz-Scharmbeck „von Kipplüftung auf die Möglichkeit zur Stoßlüftung umgerüstet“ worden. Das habe rund 38 000 Euro gekostet. Darüber hinaus wurden anhand des Rahmenhygieneplans des Landes die Reinigungsintervalle an einigen Landkreis-Schulen etwa bei den Schülertischen verkürzt.
Sabine Blohm, Vorsitzende im Kreisverband der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), hält die 20-5-20-Regel persönlich für schwierig: „Bei allem Verständnis: Das unterbricht doch jeden Prozess“, sagt die Lehrerin. „Wo sollen denn in der Zeit die Schüler bleiben?“ Ins Freie werde man sie ohne Aufsicht kaum schicken können; es sei aber auch wenig praktikabel, Schüler und Lehrkräfte regelmäßig der Zugluft auszusetzen – abgesehen davon, dass die Fenster mancher Klassenräume aus Sicherheitsgründen gar nicht geöffnet werden könnten.
Blohm setzt hinzu, es handele sich nicht um eine mit der Lehrerschaft abgestimmte Meinung: „Aus den Schulen habe ich zum Thema Lüftung noch nichts gehört; die Kollegen haben wohl auch andere Sorgen.“ Überall nämlich, so Blohm, fehle es an Personal. Das bleibe unabhängig von Corona das Hauptproblem.
Alternative: Luftreiniger
Die 27 579 Einwohner zählende Gemeinde Neukirchen-Vluyn in Nordrhein-Westfalen setzt auf eine technische Lösung: Die Politik hat 330 000 Euro locker gemacht, um für vier Grundschulen, eine Gesamtschule und ein Gymnasium Luftreiniger zu kaufen. Nach Angaben des Herstellers Trox filtert das Gerät in einer Stunde aus 1600 Kubikmetern Luft 99,95 Prozent aller Viren raus. Dabei sei das Gerät nicht lauter als ein moderner Computer und verbrauche weniger Strom als eine 100-Watt-Glühbirne. Die beiden Gerätevarianten werden in den Räumen aufgestellt und besitzen eine Grundfläche von rund 70 mal 65 beziehungsweise 44 mal 65 Zentimetern. In 2,30 Meter Höhe wird die gereinigte Luft in den Raum abgegeben. Die Geräte sollen das Stoßlüften während des Unterrichts überflüssig machen, teilt die Verwaltung mit.