Lilienthal. Alicia schürft Steine. Keine edlen, sondern solche aus Plastik. Mit einem Becher fischt sie nach den passenden Lego-Teilen in einem bunten Meer aus kleinen Bausteinen, Rädern, Dachstücken, Hüten, Geldscheinen. Von klein bis winzig liegen sie vor ihr ausgebreitet auf einem Schwungtuch. Auf dem Tuch nebenan branden die Plastikwellen gleichermaßen unter suchenden Kinderhänden auf und ab. Zwei Tage lang entstehen im Alten Amtsgericht fantastische Lego-Welten, gebaut von den jungen Teilnehmern eines Ferien-Workshops.
Etwa 40 000 Lego-Teile hat der Freizeitpädagoge René Möllenkamp dafür mitgebracht. Daraus erschaffen die Neun- bis 13-Jährigen Piraten- und Raumstationen, eine Eisenbahnwelt oder eine Handelsflotte. Einige der Bauwerke oder Fotografien davon sind ab sofort in der Fotoausstellung „Die Welt der bunten Steine“ im Alten Amtsgericht zu sehen.
Die vielen Teile, die Möllenkamp mitgebracht hat, machen nur rund ein Zehntel seines gesamten Bestands aus. Andernorts bespielt er ganze Turnhallen mit den bunten Plastiksteinen. Im Alten Amtsgericht ist es der große Raum im Erdgeschoss. Der gefällt ihm. Jedes Thema habe hier eine eigene Ecke. Die Piraten-Mädchen hocken auf einem Podest. Der Billardtisch dient als Weltraumwelt und für die jungen Eisenbahner ist auch genug Platz. Möllenkamp nennt das „die spielerische Intimität wahren“. Keiner stört den anderen. Kein Raumgleiter zischt etwa über die Piraten-Festung. Aber: „Beim Bauen treffen sie sich alle in der Mitte.“
Mit ihren neuen Funden hat sich Alicia inzwischen wieder in die Piratenecke gehockt. Dort gleiten zwei weiße Haie über das blaue Meer, hindurch zwischen zwei Boote. Mit deren Besatzungen ist garantiert nicht zu spaßen: Acht Piraten hat Alicia auf eine Seite gestellt. Manche tragen Helme. Für andere hat sie Haare gefunden. Andere Figuren kommen ohne beides aus. Hauptsache sie tragen Schwerter und Enterhaken in der Hand. Auf dem Schiff gegenüber hockt ein Affe an der Mastspitze. Auf dem Deck darunter stehen Kanonen bereit. Zusammen mit den Freundinnen Laura und Sophie werkelt Alicia schon am zweiten Nachmittag an dieser Welt, in der auf einer Insel ein Eisbär unter zwei Palmen seinen Kopf in Richtung Piratenschiffe reckt.
Meditative Ruhe
Ein paar Meter weiter gleitet ein ICE über eine ausgetüftelte Strecke. Der Zug umrundet die Wand des Raumes und verschwindet in den Flur. Dort erklärt Leif, dass das anfangs nicht so gut funktioniert habe. Zwischen Holzdielen und Fliesen fällt der Fußboden ab. Da flogt der Zug in der Kurve jedes Mal vom Gleis. Aber kein Problem für vier Zehn- bis Zwölfjährige. Die Jungen glichen den Höhenunterschied mit kleinen Unterbauten aus. Nun fährt der Zug geschmeidig darüber, allerdings mit Technik. Leif tippt mit dem Fuß in Richtung Kurve und sagt seinem Freund Jonathan: „Hier musst du ein bisschen langsam fahren.“ Der sieht das aber gelassen und schwärmt vom „einfach drüber Brettern“ und sagt fröhlich: „Die Strecke hat keine einzige Macke.“
Zu den Streckeninspektoren gesellt sich Carl. Er hält den beiden einen kleinen roten Quader hin: „Das ist ein Stein aus den 60er-Jahren.“ Die Jungen stecken die Köpfe zusammen und betrachten das Teil ganz genau. Carl erklärt, er habe das an den Buchstaben erkannt. Die stehen weiter auseinander und sind kleiner. Ob er etwa ein Profi sei? Der Junge wiegelt ab. Das könne man so nicht sagen, das sei ihm nur aufgefallen. So wie er beschäftigen sich alle Teilnehmer dieses zweitägigen großen Bauens auch zu Hause oder bei Freunden gerne mit Lego.
Abgesehen von einzelnen Baubesprechungen liegt anfangs eine Art meditativer Ruhe im Raum, entsprechend des Mottos der zwei Tage: „Langsam und leise.“ Offenbar völlig in sein Fluggefährt versunken hockt inmitten der Kinder der 50-jährige Möllenkamp in Wollsocken auf dem Holzboden und baut. Das müsse so sein. „Kinder spüren das ehrliche Interesse.“ Außerdem habe auch er Ehrgeiz. Trotzdem wendet er sofort den Kopf, als es hinter ihm klappert. Er mahnt: „Ihr müsst das ein bisschen vorsichtig angehen.“ Dann erzählt er wieder von seiner Passion und wie er mit Lego die Kinder von den Spielekonsolen wegholen will. Er nennt Lego das „pädagogisch wertvollste Plastikspielzeug“ und an anderer Stelle „pädagogisches Glück“ – eines, mit dem nicht nur gebaut sondern auch gespielt wird. Nach der Pause ist es im Alten Amtsgericht soweit. Wie für ein Theaterstück soll dann ein Plot entwickelt werden. Dann bekommt auch Möllenkamps Raumgleiter seinen Auftritt. Mit seinem Händler Tom könne er in alle Welten fliegen und seine Waren zum Tausch anbieten. Das baue eine Brücke zu und zwischen den Kindern. Bei René Möllenkamp ist Lego eben mehr als nur Plastik auf Plastik stecken. „Spielen macht noch mehr Spaß“, finden auch die Piratenmädchen Alicia, Laura und Sophie.
Die Ausstellung „Die Welt der bunten Steine“, wird an diesem Sonnabend von 17 bis 18 Uhr im Alten Amtsgericht, Klosterstraße 21, eröffnet. Danach ist sie von montags bis freitags von 15 bis 18 Uhr offen.