Hambergen. Das letzte Oktober-Wochenende des Jahres 1995 hätte eigentlich ein ziemlich durchschnittliches im Sportlerleben von Werner Mehrtens werden sollen. Mehrtens, damals 33 Jahre alt, hatte seine aktive Laufbahn in der Herrenmannschaft des FC Hambergen im Sommer beendet und zum 1. Juli seinen ersten Trainerjob beim SV Blau-Weiß Bornreihe II übernommen. Seinen Pass ließ er bis auf Weiteres bei seinem Heimatverein, wo er noch ein wenig bei der Ü32 mitkickte. So weit, so normal.
An jenem Sonntag, 29. Oktober 1995, war nun aber ein veritabler Notfall eingetreten. Dieter Bartels, lebende Trainerlegende im Landkreis Osterholz und seines Zeichens bestens bekannt unter dem vielsagenden Spitznamen „Acker“, hatte Mehrtens um Hilfe gebeten. Die erste Herren der „Zebras“ hatte ein Bezirksliga-Auswärtsspiel beim TuS Harsefeld zu absolvieren – und Bartels drückte der personelle Schuh. Also fragte „Acker“ bei Werner Mehrtens an, ob der sich auf die Bank setzen könne. Natürlich nur für den absoluten Notfall. Und Mehrtens sagte ohne lange zu zögern zu, ist doch Ehrensache. So weit, so unspektakulär.
Nun fand aber bekanntlich auch 1995 schon Ende Oktober immer ein gewisses Volksfest auf der Bremer Bürgerweide statt. Und ausgerechnet für den Sonnabend, 28. Oktober, hatte Mehrtens ja nun schon die große Sause geplant. Mit seinem guten Kumpel Matthias Renken, heute vielen als Chef der Osterholz-Scharmbecker Stadthalle bekannt, war Mehrtens seit langer Zeit verabredet. Der Termin stand, und sollte auch nicht mehr gekippt werden. Und außerdem, da war sich Mehrtens ja ziemlich sicher: „Der Trainer würde mich tags darauf in Harsefeld schon nicht einsetzen.“ Also hieß es: Hoch die Hände, Wochenende.
Bis sechs Uhr morgens ließen es Mehrtens und Renken krachen, schleppten sich irgendwann Richtung Bahnhof und nahmen den ersten, zweiten oder dritten Zug des Tages (so genau kann Mehrtens das heute nicht mehr sagen) zurück Richtung Heimat. Nach einer minimal kurzen und nicht gerade erholsamen Schlafphase ging es dann schon wieder los zum Treffpunkt. Die Busfahrt nach Harsefeld verbrachte Mehrtens dösend an die Scheibe gelehnt – hoffend, dass er kurze Zeit später bitteschön auf gar keinen Fall auflaufen müsse.
Musste er dann auch erst einmal nicht. Doch die Hamberger Truppe um die damaligen Säulen Gero Thiel, Malte Jaskosch und Erwin Rapp spielte schlecht. Wirklich schlecht. In der 25. Minute fiel das 0:1. Die „Zebras“, seinerzeit immerhin Tabellenführer der damaligen Bezirksliga, blieben fast alles schuldig. „Acker“ Bartels war sauer. Und wollte ein Zeichen setzen. Also fiel schon nach gut 30 Minuten der Satz, den Mehrtens auf gar keinen Fall hatte hören wollen: „Werner, mach Dich warm, Du kommst gleich rein.“ Und Mehrtens wusste in dem Moment nicht, was er denken sollte. Er wusste nur eins: „Ich habe mich zu diesem Zeitpunkt wirklich nicht gut gefühlt.“
Dennoch stand Mehrtens auf, absolvierte ein angemessen kurzes Warmmachprogramm und ging dann in der 38. Minute aufs Feld. So bekam er auch die lautstarke Halbzeitpredigt des Trainers mit und war ebenfalls mittendrin, als Harsefeld neun Minuten nach Wiederanpfiff auf 2:0 erhöhte. Doch es kam noch schlimmer. Nur drei Minuten nach dem 0:2 entschied der Schiedsrichter auf Strafstoß für Harsefeld. Und wer hatte diesen verschuldet? Logisch: Werner Mehrtens. „Ich weiß noch genau, wie ich da im Sechzehner hockte und gedacht habe: Das ist der schlimmste Tag meiner ganzen Laufbahn.“ Doch dann überschlugen sich die Ereignisse plötzlich.
Zunächst parierte Hambergens Keeper Thomas Marks den Elfmeter. Nur 120 Sekunden später schloss Erwin Rapp einen Flankenlauf mit dem 1:2-Anschlusstreffer ab. Und dann wurde aus dem Volldeppen Mehrtens plötzlich der Fußballheld Mehrtens. Klaus von Oesen flankte, Mehrtens köpfte – 2:2 (68.). Und nur zwei Minuten später stand Mehrtens, der in seiner aktiven Laufbahn weiß Gott kein Goalgetter war, erneut goldrichtig und traf zum viel umjubelten 3:2. Sechs Minuten vor Schluss folgte der 4:2-Schlusspunkt durch den ebenfalls eingewechselten Sahan.
Die Hamberger feierten einen nicht mehr für möglich gehaltenen Auswärtssieg – und Altherrenkicker Mehrtens schlich mit Muskelkrämpfen und komplett ausgelaugt vom Feld. Aber glücklich wie selten zuvor. Es sollte sein letzter Einsatz im Dress der ersten Herren des FC Hambergen werden. Einen verrückteren, wechselhafteren, schöneren, unverhoffteren Schlusspunkt seiner FC-Laufbahn hätte sich Mehrtens kaum vorstellen können.
Ach so, der Sieg wurde auf der Rückfahrt und im Hamberger Vereinsheim noch angemessen begossen. „Da gingen noch ein, zwei Stiefel über die Theke“, erinnert sich Werner Mehrtens. Er selbst rührte an diesem Nachmittag kein Glas mehr an. Mehrtens wollte einfach nur ins Bett. Dem damaligen Trainer Dieter Bartels hat er seinen vorabendlichen Ausflug auf den Bremer Freimarkt übrigens bis heute nicht gebeichtet. Zu groß war das schlechte Gewissen. Auch wenn die Geschichte am Ende eine so glückliche Wendung genommen hatte.
„Aber so etwas macht man ja eigentlich nicht“, sagt Mehrtens und beteuert: „Das war das einzige Mal in meiner gesamten Laufbahn, wo ich vor einem Punktspiel derart über die Stränge geschlagen bin.“ Der heute 58-Jährige hat viele große Schlachten geschlagen, vor allem auch beim SV Blau-Weiß Bornreihe höherklassig und vor großen Kulissen gespielt. Dennoch ist dieses stinknormale Bezirksligaspiel Ende Oktober zu seinem ganz persönlichen Spiel des Lebens geworden. Obwohl, oder gerade weil es ein ziemlich schmaler Grat zwischen Volldepp und Fußballheld war an jenem Nachmittag.
Werner Mehrtens (58)
fing beim FC Hambergen mit dem Fußballspielen an. Bei seinem Heimatverein kickte Mehrtens zunächst von 1974 bis 1989. Es folgten Stationen als Spieler beim SV Blau-Weiß Bornreihe (1989/1990), und als Spielertrainer beim VfL Ohlenstedt (1990/1991). Nach weiteren Stationen bei den Bornreiher „Moorteufeln“ (1991-1993) und den Hamberger „Zebras“ (1993-1995) wechselte Mehrtens endgültig auf die Trainerbank. Von 1995 bis 2000 coachte der Postangestellte die zweite Mannschaft des SV Bornreihe, ehe von 2000 bis 2006 erfolgreiche Jahre beim SV Komet Pennigbüttel folgten. Die Lila-Weißen führte Mehrtens ebenso aus der Kreis- in die Bezirksliga wie danach auch den ASV Ihlpohl, wo er von 2006 bis 2010 als Coach aktiv war. Nach einem kurzen Intermezzo beim VSK Osterholz-Scharmbeck II folgten zum Abschluss noch einmal zwei Jahre bei der Bornreiher Reserve. Als aktiver Spieler gewann Mehrtens mit dem FC Hambergen und dem SV Bornreihe den früheren Pressecup.
Der bejubelte Aufstieg oder ein tränenreicher Abstieg. Ein unvergessener Sieg, oder die bittere Niederlage in letzter Sekunde. In unserer neuen Serie „Spiel meines Lebens“ erinnern sich Sportlerinnen und Sportler an den größten Moment ihrer Laufbahn – ganz egal, ob positiv oder negativ.
Weitere Informationen
Sonntag, 29. Oktober 1995
Bezirksliga-Punktspiel
TuS Harsefeld – FC Hambergen 2:4 (1:0)
FC Hambergen: Marks; Brauns, Finken, Lütjen, Rapp, Wellbrock, von Oesen, Lübben (38. Mehrtens), Koch (46. Rumpf/82. Sahan), Jaskosch, Thiel
Tore: 1:0 Gerkens (25.), 2:0 Maibohm (55.), 2:1 Erwin Rapp (60.), 2:2 Werner Mehrtens (68.), 2:3 Werner Mehrtens (70.), 2:4 Sahan (84.)