Sandra Kwijas blickt derzeit häufig in die enttäuschten Gesichter ihrer Kunden. Die pharmazeutisch-technische Assistentin (PTA) arbeitet in der Kaisen-Apotheke in Borgfeld und hat damit jeden Tag mit den anhaltenden Engpässen bei der Medikamentenversorgung zu tun. Die 55-Jährige spricht von einer dramatischen Situation bei der Versorgung mit Klassikern, die fester Bestandteil in der Behandlung von Erkältungen sind. Die Mangellage sorge über viele Arzneimittelgruppen hinweg für Probleme.
Die Situation betrifft vor allem bestimmte Antibiotika, die bei zahlreichen Indikationen zum Einsatz kommen, aber auch viele gängige Medikamente, Fiebersäfte, flüssige Schmerzmittel oder auch Mittel gegen Bluthochdruck: Auf der Lieferengpass-Liste der Kaisen-Apotheke zum Beispiel waren vor einigen Tagen 210 Arzneimittel aufgeführt. "Eine immense Zahl, das hatten wir noch nie", sagt Sandra Kwijas.
Dosierung anpassen
In solchen Fällen müssen die Apothekerinnen und Apotheker in der Region improvisieren. "Wir versuchen immer, eine Lösung zu finden, was wir in 90 Prozent der Fälle auch schaffen", sagt Kwijas. Eine Möglichkeit sei, auf Alternativmittel auszuweichen. Auch versuche man, sich unter Kollegen mit Ware auszuhelfen. Eine weitere Variante ist die Anpassung der Dosierung. Wer Glück hat, bekommt dann sein verschriebenes Mittel immerhin noch in einer anderen Darreichungsform, als vom Arzt festgelegt. Sind beispielsweise Tabletten mit fünf Milligramm Wirkstoff nicht erhältlich, kann man es womöglich mit zweimal 2,5 Milligramm versuchen.
"Bestimmte Entscheidungen dürfen wir ohne Rücksprache mit dem Arzt treffen. Ansonsten rufen wir ihn oder sie an", erzählt Sandra Kwijas. Telefonate mit Ärzten führen die Apotheken fast täglich, um andere Lösungen anzubieten, und sie fragen bei Herstellern, Großhändlern und Vertretern an, um an ein Medikament ranzukommen. Das kostet sie viel Zeit und ist häufig erfolglos. Hat der Großhandel nur bestimmte Kontingente, verteilen sich diese auf viele Abnehmer. Manche Arzneimittel wie etwa Fiebersäfte könnte die Kaisen-Apotheke zwar selbst herstellen, sagt Sandra Kwijas, aber der Aufwand sei nicht zuletzt wegen der angespannten personellen Situation groß. "Für kleine Apotheken ist das kaum leistbar."
Sandra Kwijas hofft, dass sich die Lage allmählich beruhigt. Denn begeistert seien die Kunden nicht, wenn sie ihr Medikament nicht bekämen. "In den meisten Fällen treffen wir letztlich jedoch auf Verständnis." Beim Notdienst sehe es manchmal anders aus, "da können die Leute am Telefon schon mal unfreundlich und sehr ungehalten sein. Aber das sind Ausnahmen."
Enttäuschung bei den Kunden
Eine solche Mangelsituation hat auch Ursula Frerker-Müller in 36 Jahren als Apothekerin nicht erlebt. Die Lage bei Arzneimitteln für Kinder sei besonders dramatisch. "Es war sonst eigentlich alles bestellbar", sagt die Inhaberin der Lilien-Apotheke im Lilienthaler Zentrum. Ihr Kollege Otto Wilken bestätigt diese Erfahrung. "Diese monatelangen Engpässe kenne ich nicht", erinnert sich der 63-Jährige, der seit 1987 die Rats-Apotheke in Lilienthal betreibt. Wenn die Kundschaft ein Medikament nicht gleich bekommen kann, führt das nach Angaben von Wilken immer wieder zu Enttäuschung. Den Patientinnen und Patienten raten daher alle pharmazeutischen Experten, die wir fragten, sich frühzeitig um ein neues Rezept zu bemühen, wenn Medikamente zur Neige gehen, und es schnell in der Apotheke vorzulegen.

Otto Wilken
Die Ursachen für den Mangel sind komplex, sagt Ursula Frerker-Müller. So sei die Produktion für viele Wirkstoffe nach Fernost verlegt worden. Auch ihr Kollege Otto Wilken kritisiert solche Fehlentwicklungen in der Vergangenheit. "Es geht um jeden Cent. Das System ,Geiz-ist-geil' treibt die Pharmafirmen quasi ins Ausland." Die Lieferkettenprobleme würden durch den Ukraine-Krieg lediglich verstärkt. Aus Wilkens Sicht wäre es wichtig, möglichst viel Produktion nach Europa zurückzubringen.
Der Mangel hat Gründe
Auch Sandra Kwijas beklagt den Kostendruck im Gesundheitssystem. So seien etwa die Preise für Medikamente gesunken, dadurch habe die Pharmaindustrie kein gesteigertes Interesse mehr daran, bestimmte Arzneimittel zu produzieren, weil sich damit kein Gewinn erzielen lasse. Im Ersatzteilmangel für in der Pharmaindustrie eingesetzte Maschinen sieht sie einen weiteren Grund für diese Engpässe.
Diese haben sich nach Beobachtung der Apothekerkammer Niedersachsen im Verlauf der Corona-Zeit verschärft. „Wir hatten schon 2019 Lieferengpässe, dann kam die Pandemie, und jetzt ist es ganz dramatisch“, sagte Kammerpräsidentin Cathrin Burs im vergangenen Monat.

Apothekerin Ursula Frerker-Müller vor ihrem Regal mit einer Lücke. Dort sollte eigentlich ein Hustensaft für Kinder stehen.
Die Branche beobachtet, dass in manchen Nachbarländern Arzneimittel leichter zu bekommen sind. Die 60-jährige Burs plädiert für Gestaltungsspielräume, die deutschen Apotheken ermöglichen, zum Beispiel eigenständig Medikamente im Ausland bestellen zu können. Diese in der Pandemie gefundenen unbürokratischen Lösungen müssten beibehalten werden. Nach Angaben der Lilienthaler Apothekerin Ursula Frerker-Müller wiederum ist die Bestellung im Ausland zwar möglich, jedoch aufwendig, teuer und sie dauere lange.