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Vorurteile und Offenheit "Auf dem Land leben mehr queere Menschen, als man denkt"

Auf dem Land fehlen jungen homosexuellen oder anderen queeren Menschen oft die Angebote, um sich mit anderen auszutauschen. Was sagt eine Expertin dazu? Und wie ist die Lage im Landkreis Osterholz?
20.09.2024, 10:00 Uhr
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Von Irene Niehaus

Im Mai hat der Sänger Nemo den Eurovision Song Contest (ESC) gewonnen, er identifiziert sich als non-binär, also weder nur dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig. Ex-Bond-Darsteller Daniel Craig spielt in seinem neuen Film "Queer" einen schwulen Weltkriegsveteranen. Da könnte man meinen, dass es inzwischen überhaupt kein Problem mehr ist, wenn Menschen anders leben und lieben, als es heterosexuelle Rollenbilder vorsehen. Wie sehen Sie das?

Jo* Szymanski: Ich finde es super, dass das Thema immer präsenter ist, sei es durch Protagonisten in Filmen oder bei dem Song-Wettbewerb. Der ESC ist ja ein Riesen-Event, den viele Menschen erreichen, von jung bis alt und aus verschiedenen Schichten.

Sie selbst möchten nicht als Frau oder Mann angesprochen werden, empfinden sich queer. Deshalb das Sternchen?

Ja, es steht stellvertretend fürs Non-Binäre.

Sie bieten demnächst eine Fortbildung im Alten Amtsgericht in Lilienthal an mit dem Titel "Queer im ländlichen Raum". Warum?

Ländliche Regionen sind oft geprägt durch traditionelle Strukturen und Wertvorstellungen, die es queeren Menschen erschweren können, ihre Identität offen zu leben. Menschen mit Vorurteilen leben zwar auch in Städten, dort haben queere Menschen aber mehr Bereiche, in denen sie sich bewegen können. Sie sind präsenter, die anderen sagen sich dann eher, sie gehören dazu.

Was sind die besonderen Herausforderungen?

Im Dorf haben queere Menschen keine Community zum Austausch. Oft ist es für Jugendliche, die auf dem Land leben, auch eine Herausforderung, in die Städte zu fahren, um dort queere Angebote zu nutzen. Sie müssen dann weitere Wege in Kauf nehmen. Und auch nicht jeder Jugendliche hat sich schon geoutet und will dann nicht unbedingt seine Eltern fragen, ob sie ihn in die nächste Stadt fahren. Kein Führerschein und vielleicht Eltern mit einer homophoben und transfeindlichen Einstellung - dann habe ich ein Problem.

Welche Wünsche haben queere Menschen im ländlichen Raum?

Sie wünschen sich Angebote und Anlaufpunkte, um sich vernetzen und sich mit ihresgleichen treffen können. Meistens treffen sie sich noch eher im Privaten. In Bremen wissen die queeren Menschen, an welche Stellen sie sich wenden können, zum Beispiel an "Rat und Tat". Das ist auf dem Land meistens anders. Auch Lehrer oder andere Multiplikatoren können dann oft nicht weiterhelfen.

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Wie könnten solche Treffpunkte aussehen?

Es geht um Räume, wo man sich ausprobieren kann, wie etwa in Lilienthal das Queer-Café im Alten Amtsgericht. Es wäre cool, wenn solche Räume wie in Lilienthal an Jugendtreffs angegliedert wären. Es gibt auch Schulen, die Queer-AGs anbieten. Die sind richtig gut, leider ist es so, dass Interessierte Diskriminierung erfahren und sich oft nicht trauen, hinzugehen. Deshalb ist Aufklärung wichtig, Geschlechtervielfalt sollte eine viel größere Rolle im Unterricht spielen. Es muss klar werden, dass queer zu leben etwas ganz Normales ist und kein Randthema ist. Auf dem Land leben mehr queere Menschen, als man denkt.

Wie offen und tolerant nehmen Sie die Dörfer in der Region in Sachen Homosexualität und Queerness wahr?

Da gibt es Orte, in denen wenig Offenheit herrscht. Zwischen einzelnen Dörfern können Welten liegen, was die Einstellung zum Queersein betrifft. Toll ist, dass immer mehr Menschen im ländlichen Raum sich fragen, was sie dazu beitragen können, um die queeren Menschen zu unterstützen. Das ist nicht selbstverständlich. Im Landkreis Osterholz fällt mir auf, dass Institutionen offen sind für das Thema und entsprechende Strukturen schaffen wollen.

Auf der einen Seite Solidarität, auf der anderen Seite gibt es bundesweit Angriffe auf Menschen, die als queer auftreten.

Ja, das ist leider so. Es gibt Tendenzen, dass die homophoben und transfeindlichen Gesellschaftsbilder in der Bevölkerung zunehmen.

Das Interview führte Irene Niehaus.

Info

Im Jugendtreff Altes Amtsgericht in Lilienthal beginnt am Montag, 30. September, die Fortbildungsreihe "Queer im ländlichen Raum". Sie richtet sich an Fachkräfte und andere Interessierte, die Fähigkeiten und Kenntnisse in diesem Bereich erweitern und für das Thema sensibilisieren wollen, um queere Menschen zu unterstützen. Die Reihe umfasst drei Termine und endet Anfang November. Die Veranstaltung findet im Rahmen des Projekts „Queer Revolution“ der Partnerschaft für Demokratie im Landkreis Osterholz statt und wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie Leben“ gefördert. Jo* Szymanski von der Bildungsstätte Bredbeck betreut die Fortbildung. Weitere Informationen und Anmeldungen an joolz.szymanski@yahoo.com.

Zur Person

Jo* Szymanski 

hat ein Studium der Kunsttherapie abgeschlossen. Seit Januar 2016 ist Jo* Szymanski im Rahmen einer freien Mitarbeit in der Bildungsstätte Bredbeck in Osterholz-Scharmbeck in zahlreichen Projekten der Fachbereiche politische und berufliche Bildung tätig. Schwerpunkte sind unter anderem Themen rund um Geschlecht, Sexualität, Queer-Feminismus, Antidiskriminierung und Identität. Jo* Szymanski hat Erfahrungen in der Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie mit Fachkräften und ist neben der Bildungsarbeit im künstlerischen Bereich freiberuflich tätig.

Zur Sache

Was bedeutet "queer"?

Queer ist ein Sammelbegriff für alle Personen, die sich in ihrer geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung nicht der "heteronormativen" Mehrheitsgesellschaft zugehörig fühlen. Das können zum Beispiel Menschen sein, die lesbisch, schwul, bisexuell, transgeschlechtlich/transgender oder intersexuell sind, sich also weder als Mann noch als Frau fühlen. 

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