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Über 50 Bewerbungen verschickt Gehbehinderte Lilienthalerin findet keinen Job

Constanze Gusek hat über 50 Bewerbungen geschrieben – ohne Erfolg. Die ausgebildete Bürokauffrau sitzt aufgrund einer Gehbehinderung im Rollstuhl. Sie ist frustriert, weil sie keine Arbeit findet.
26.09.2023, 05:00 Uhr
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Von Irene Niehaus

Lilienthal. Arbeits- und Fachkräfte fehlen im ganzen Land. Trotzdem haben Menschen mit Behinderung schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Eine, die mit einer Körperbehinderung lebt und einen Job sucht, ist Constanze Gusek aus Lilienthal. Seit ihrer Geburt ist die inzwischen 24-Jährige beeinträchtigt, leidet an  einer Gehbehinderung und sitzt im Rollstuhl. Sie ist gelernte Kauffrau für Büromanagement, die Ausbildung beendete sie im Mai vorigen Jahres. Seitdem ist sie arbeitslos. Sie wolle endlich in ihrem Job arbeiten, nur bekomme sie keine Chance, sich in der Arbeitswelt zu beweisen, erzählt die gebürtige Grasbergerin.  "Ich habe bestimmt 50 Bewerbungen geschrieben. Entweder bekomme ich Absagen oder gar keine Rückmeldung. Es ist deprimierend."

So wie Constanze Gusek geht es vielen Menschen mit Handicap auf dem Arbeitsmarkt. Karen v. Grote von der unabhängigen Teilhabeberatung Aller-Weser-Wümme mit Sitz in Lilienthal bestätigt die Schwierigkeiten. "Es ist sehr schwer für Menschen mit Behinderung, einen Arbeitsplatz zu bekommen."  Von "unendlich hohen Hürden" spricht Michael Schumacher, der Behindertenbeauftragte des Landkreises Osterholz. Dabei sind Arbeitgeber mit mehr als 20 Mitarbeitern eigentlich verpflichtet, eine Beschäftigungsquote für Schwerbehinderte zu erfüllen. Wie Jörg Nowag, der Pressesprecher der Agentur für Arbeit Bremen, berichtet, müssen mindestens fünf Prozent der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzt werden. Wer sich weigert, die Quote zu erfüllen, den bittet der Staat über die Ausgleichsabgabe zur Kasse. Je nachdem, wie weit der Arbeitgeber von der Fünf-Prozent-Hürde entfernt ist, muss er laut Nowag monatlich 140 bis 360 Euro pro unbesetzte Pflichtstelle zahlen.

DGB beklagt Beschäftigungsquote

Laut Agentur-Statistik waren im Jahr August 2020 genau 149 schwerbehinderte Arbeitslose im Landkreis Osterholz gemeldet, im August 2023 waren es 136. In Niedersachsen machten schwerbehinderte Menschen nach Angaben des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) im vergangenen Jahr nur 4,3 Prozent aller Beschäftigten aus (private Arbeitgeber: 4,0 Prozent, öffentliche Arbeitgeber: 5,2 Prozent). Damit habe das Bundesland deutlich unter der gesetzlich vorgeschriebenen Quote von fünf Prozent schwerbehinderter Beschäftigter gelegen. Von den 16.377 Unternehmen in Niedersachsen, die diese Quote im letzten Jahr hätten erfüllen müssen, habe sogar jedes vierte Unternehmen (4320) keinen einzigen schwerbehinderten Beschäftigten gehabt. 

Es sei noch viel Aufklärungsarbeit erforderlich, findet Karen v. Grote. Viele Arbeitgeber hätten noch falsche Vorstellungen hinsichtlich der Einsatzmöglichkeiten, der Leistungsfähigkeit und der Belastbarkeit von Menschen mit Behinderungen, auch fehlten oft Kenntnisse über spezielle Eingliederungshilfen und Unterstützungsangebote. Darüber hinaus bestimmten Befürchtungen wie hohe Ausfallzeiten oder schwierige Kündbarkeit sowie oft Berührungsängste, latente Vorurteile und negative Einstellungen die Sicht in vielen Unternehmen. Von Barrieren in den Köpfen von Arbeitgebern spricht Kreisbehindertenbeauftragter Schumacher und bestärkt Betroffene darin, am Ball zu bleiben und ihr Recht einzufordern. 

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Auf Vorbehalte gestoßen ist Constanze Gusek bereits als Kind. Ihren Eltern wurde nahegelegt, die Tochter auf eine Förderschule für Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung zu schicken. Doch das Mädchen ließ sich nicht abschieben, es ging zur Grundschule, machte später seinen Realschulabschluss, seinen Führerschein und eine Ausbildung. Doch auf die meisten ihrer Bewerbungsversuche erhielt Constanze Gusek keine Rückmeldung, sagt sie, oder sie sei mit fadenscheinigen Begründungen abgewiesen worden. So seien beispielsweise neu ausgeschriebene Stellen dann plötzlich doch schon besetzt gewesen. Am Telefon sei sie häufig einfach weggedrückt worden, sobald sie ihre Behinderung erwähnt habe, so Gusek.

Lieber Ausgleichsabgabe als Job?

Diskriminierend sei das, ärgert sich Teilhabeberaterin Karen v. Grote.  Man könne den Eindruck gewinnen, sagt sie, dass viele Firmen Jahr für Jahr lieber eine Ausgleichs­­abgabe zahlten, statt Menschen mit einer Schwerbehinderung einzustellen. Die Zurückhaltung bei Neueinstellungen von Schwerbehinderten begründen die Unternehmerverbände Niedersachsen (UVN) auf ihrer Homepage mit unklaren Zuständigkeiten, hohem bürokratischen Aufwand sowie einer Vielzahl an unterschiedlichen Fördermöglichkeiten.

Aufklärung ist das, was auch Constanze Gusek erreichen will, wenn sie an die Öffentlichkeit geht, um über ihre Erfahrungen mit der Arbeitswelt und ihren Frust zu sprechen. "Mein Ziel ist es, ein gewisses Umdenken in der Gesellschaft zu bewirken", sagt die 24-Jährige. Auch sie habe oft das Gefühl, dass viele Firmen Angst hätten, einen Menschen mit Behinderung einzustellen. "Und viele denken, dass ich auch blöd bin, aber ich bin nicht blöd."

Momentan befindet sich die gebürtige Grasbergerin in einer Maßnahme der Arbeitsagentur und arbeitet in verschiedenen Betrieben. Sie wünscht sich einen festen Arbeitsplatz, an dem sie sich respektiert fühlt und gut unterstützt wird, so wie im SOS-Kinderdorf Worpswede, in dem sie gerade ein Praktikum macht. Wenn sie da nicht gerade arbeitet, fährt sie gerne mit ihrem Auto durch die Gegend, um ein Stück Freiheit zu genießen.

Zur Sache

Bundesregierung erhöht Druck

Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, mehr Menschen mit Behinderungen in reguläre Arbeit zu bringen. Der Bundestag hat ein Gesetz verabschiedet, das Firmen dazu bringen soll, mehr Menschen mit Handicap zu beschäftigen. Geschieht das nicht, werden demnach höhere Abgaben fällig. Das Gesetz soll Anfang 2024 in Kraft treten und sieht insbesondere vor, dass Firmen höhere Abgaben zahlen, wenn sie trotz Verpflichtung keine Menschen mit Behinderung beschäftigen. Dafür wird die sogenannte   Ausgleichsabgabe geändert. Diese müssen Firmen zahlen, wenn sie keine Schwerbehinderten beschäftigen, obwohl sie dazu verpflichtet sind. Für Arbeitgeber mit mindestens 60 Arbeitsplätzen gilt künftig, dass sie pro nicht besetztem Pflichtarbeitsplatz 720 Euro monatlich zahlen müssen - bislang ist es die Hälfte. Für kleinere Unternehmen gibt es Sonderregelungen. Das Geld fließt in Investitionen in behindertengerechte Arbeitsplätze, Lohnzuschüsse für Arbeitgeber und einen Ausgleichsfonds für bundesweite Förderprogramme.

Info

Ansprechstellen für Unternehmen

Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber können sich in Niedersachsen von sechs "Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber“ (EAA) rund um die Einstellung von schwerbehinderten Menschen kostenfrei informieren, beraten und unterstützen lassen. Informationen zu den Beratungsstellen gibt es im Internet unter http://eaa-niedersachsen.de/. Aufgabe der Ansprechstellen unter anderem in Lüneburg und Oldenburg ist es, für die Ausbildung, Einstellung und Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen zu sensibilisieren und Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in diesem Zusammenhang sowohl beratend als auch bei der Stellung von Anträgen zu unterstützen.

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