An den Schulen hat Bremen die Inklusion so weitgehend eingeführt wie kaum ein anderes Bundesland. Die meisten Kinder mit Behinderung gehen heute auf eine normale Schule, nur noch zehn Prozent besuchten zuletzt eine gesonderte Förderschule. Doch wie steht es nach der Schulzeit um die Inklusion?
Fachleute sagen übereinstimmend: Die große Mehrheit der Bremer Jugendlichen mit einer geistigen Beeinträchtigung arbeiten nach der Schule in einer Behindertenwerkstatt. Dass sie in einem normalen Unternehmen arbeiten, ist noch die absolute Ausnahme. „Bei geistiger Beeinträchtigung ist die Werkstatt derzeit der Regelfall“, sagt Bremens Landesbehindertenbeauftragter Joachim Steinbrück.
„Die meisten Praktika während der Schulzeit werden bei Werkstätten gemacht, das ist auch am einfachsten zu organisieren“, bestätigt Elke Gerdes vom Verein „Eine Schule für alle“. Doch immer mehr Jugendliche, die erlebt haben, dass sie – oft unterstützt durch eine Assistenzkraft – eine normale Schule besuchen können, haben andere Erwartungen. „Es kommen immer mehr, die sagen, sie wollen nicht in eine Behindertenwerkstatt, aber es gibt noch viel zu wenig Alternativen dazu.“
Von den Wünschen ihrer Schüler erzählt auch Lehrerin Karin Kreuser, die am Schulzentrum Neustadt Jugendliche mit Beeinträchtigung unterrichtet: „Da wächst eine neue Generation heran, die Jugendlichen haben ein anderes Selbstbewusstsein, alle wollen am liebsten den Führerschein machen und viele, die einen Schwerbehindertenausweis haben, sehen sich nicht als Schwerbehinderte“, sagt sie.
Längst nicht jeder, der sich das wünscht, kann eigenständig in einer normalen Firma arbeiten, für einige ist der geschützte Raum einer Werkstatt vielleicht besser. Das festzustellen, sei für viele ein schmerzhafter Prozess, sagt Kreuser. Doch einige könnten mit entsprechender Unterstützung durchaus einfache Arbeiten in Betrieben übernehmen, glaubt die Lehrerin: „Aber auf dem ersten Arbeitsmarkt gibt es kaum Bereitschaft, Menschen mit geistiger Beeinträchtigung einzustellen, da gibt es ganz große Berührungsängste, das ist noch ein absolutes Novum.“
Kräftige Subventionen für Arbeitgeber
Auf dem Weg zu einer inklusiven Arbeitswelt sei noch viel zu tun, sagt auch der Behindertenbeauftragte Steinbrück: „Bremen steht noch ganz am Anfang, wenn es darum geht, Alternativen zu Werkstätten zu entwickeln.“ Es gebe aber „zarte Pflänzchen für neue Wege“. Eines dieser Pflänzchen ist das „Budget für Arbeit“. Seit Januar ist die zweite Stufe des Bundesteilhabegesetzes in Kraft getreten.
Seitdem haben Menschen mit Behinderung in Deutschland ein Recht darauf, dass staatliche Fördermittel für sie nicht an eine Werkstatt fließen, sondern ihnen direkt zugute kommen – egal, wo sie arbeiten. Konkret bedeutet das kräftige Subventionen für Arbeitgeber, die Beschäftigte mit Behinderung einstellen: Firmen können sich bis zu 75 Prozent der Lohnkosten vom Staat erstatten lassen.
In Bremen gibt es das Budget für Arbeit sogar schon seit zwei Jahren, denn hier wurde ein Modellprojekt umgesetzt. Darauf verweist Ahlrich Weiberg, Geschäftsführer der Werkstatt Bremen. Allerdings sei viel zu wenig bekannt, dass es diese Fördermöglichkeit gebe: „Das Budget für Arbeit wurde bislang nur für eine Handvoll Menschen mit Beeinträchtigung genutzt.“ Er fordert ebenso wie Steinbrück, dass diese Möglichkeit von der Stadt stärker beworben und von Firmen mehr ausprobiert werden sollte.
Die Zahl der Plätze in Werkstätten ist in Bremen im Vergleich mit anderen Städten sogar besonders hoch, sagt der Landesbehindertenbeauftragte. Steinbrück zufolge kommen im Land Bremen auf etwa 670.000 Einwohner mehr als 3000 Plätze in Behindertenwerkstätten. Ein Großteil davon ist beim Martinshof angesiedelt: Dort gibt es gut 1880 Werkstattplätze.
Und auch beim Martinshof nimmt man veränderte Erwartungen von Jugendlichen und ihren Eltern wahr: Ein wachsender Anteil wolle weiter raus aus dem Schutzraum und rein ins normale Berufsleben, sagt Weiberg. Beim Martinshof, der mit zahlreichen Bremer Firmen kooperiert, gibt es neben den Werkstätten auch Einzelarbeitsplätze in Betrieben.
Die Zahl dieser Plätze sei zuletzt von 15 auf 50 aufgestockt worden, sagt Weiberg. Er stellt fest: „In der Schule haben Jugendliche zum Teil eine Einzelbetreuung und erleben, dass sie am normalen Unterricht teilnehmen können. Und dann geht es in den Arbeitsmarkt, dann kommt der Bruch, denn da gibt es oft gar keine Betreuung mehr.“ Es fehle an Begleitung beim Übergang, kritisiert er.
Mittel für "Initiative Inklusion" liefen aus
Allerdings: Ein von vielen Fachleuten als sinnvoll erachtetes Programm für genau diese Begleitung muss in Bremen in diesem Jahr aussetzen. Der Grund: Die Mittel für das Bundesprogramm „Initiative Inklusion“ liefen Ende 2017 aus. „Bremen hat es versäumt, rechtzeitig dafür zu sorgen, die Fortsetzung des Programms zu sichern“, kritisiert Steinbrück.
Streit darüber, welches Ressort für die Finanzierung zuständig sei, habe dazu geführt, dass das Programm aktuell nicht weiterläuft. Im kommenden Jahr soll das Programm nun aber aus Landesmitteln wieder aufgenommen werden. Es sollen 3,2 Millionen Euro in das Programm „Inklusive Ausbildung“ fließen, das Vorbehalte von Arbeitgebern bei der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen abbauen soll, kündigte die Arbeitsbehörde zuletzt an.
Einer der Träger, der das Berufsorientierungs-Programm umsetzte und Jugendliche in den letzten beiden Schuljahren begleitete, ist der Integrationsfachdienst Bremen (IFD). IFD-Leiter Stefan Höppner beschreibt, dass von 118 Schülern, die seit 2012 von einem Jobcoach begleitet wurden, etwa 20 Prozent in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden konnten.
"Die Zahl der Werkstattplätze steigt bundesweit"
Zum Vergleich: Zuvor seien bis 2009 fast 100 Prozent in Behindertenwerkstätten vermittelt worden. „Früher ist man zum Martinshof gegangen, zack bumm, das war so“, sagt Höppner. „Heute wollen viele junge Leute was anderes.“ Besonders Jugendliche mit geistiger Behinderung würden von der Hilfe beim Berufseinstieg profitieren, sagt er. Doch vielen sei nicht bewusst, welche Hilfen ihnen zustünden. Und auch an Schulen sei oft nicht bekannt, dass sie Reha-Berater der Agentur für Arbeit einladen könnten, die beim Berufseinstieg beraten.
„Die Zahl der Werkstattplätze steigt bundesweit – trotz Inklusion“, sagt Gerdes. Das liege auch daran, dass im normalen Arbeitsmarkt immer mehr Menschen rausfielen und dann in einer Werkstatt landeten: „Wir haben eine sozial extrem undurchlässige Arbeitswelt: Entweder man funktioniert und packt es – oder man fällt durchs Raster.“ Mit den staatlichen Fördermitteln gibt es nun aber durchaus auch mehr Möglichkeiten für Unternehmen, sich in der Inklusion auszuprobieren.