Rolf Tetens schiebt Holzscheite in den gusseisernen Ofen in seiner Küche, der das gesamte alte Bauernhaus beheizt. Das spare Heizöl, sagt der 75-jährige Landwirt. Mit steifem Rücken setzt er sich auf einen Küchenstuhl. Sparen müssen er und seine Frau jeden Tag. Denn seit zehn Jahren leben sie beide nur noch von Rolf Tetens' Rente: 1400 Euro im Monat. Davon zieht Heike Tetens, die wie ihr Mann tatsächlich einen anderen Namen trägt, gleich am Anfang des Monats einiges ab: Pacht für die Felder, die der Sohn bewirtschaftet, Abzüge für die Nutzung des Moorlands, Versicherungen und im Oktober zusätzlich eine 100-Euro-Rate für die Reparatur ihres Pkw. Bis zum Ende des Monats kommt das Ehepaar trotzdem hin. Die gelernte Hauswirtschafterin kalkuliert stets einen Puffer von hundert Euro ein. Meistens müsse sie das Geld jedoch für Reparaturen ausgeben. „Wenn die Raten abbezahlt sind, ist wieder irgendetwas anderes kaputt“, sagt sie. An dem 300 Quadratmeter großen Bauernhaus gebe es immer etwas zu reparieren.
Das Paar erlebt einschneidende Einkommensknappheit im Alter, bekannt auch als Altersarmut. Denn Rolf Tetens' Rente liegt knapp unter der Armutsgefährdungsschwelle von 1471 Euro für ein Paar in Niedersachsen. Altersarmut sei scheinbar ein häufiges Phänomen, dabei betreffe sie nur wenige. Zu diesem Schluss kommt die Bundesregierung. Sie zeigt in ihrem fünften Armutsbericht, dass nur wenige Menschen über 65 ein relativ niedriges Einkommen haben. Ihr Armutsrisiko liege dann deutlich unter dem der Gesamtbevölkerung. Wenn man alle Menschen über 65 Jahren betrachtet, stimmt das: 14,8 Prozent von ihnen waren 2017 von relativer Armut bedroht. Das sind 1,2 Prozent weniger als in der gesamten Bevölkerung Deutschlands. „Die Armutsquote der Gruppe der über 65-Jährigen ist unterdurchschnittlich“, sagt auch René Böhme, Armutsforscher des Instituts für Arbeit und Wirtschaft in Bremen.
Ein kleines Phänomen ist die Altersarmut für Jutta Rühlemann trotzdem nicht: „Die Gruppe der Menschen, die auf die Leistungen der Diakonie angewiesen sind, ist größer, als wir denken.“ Die Superintendentin des evangelisch-lutherischen Kirchenkreises Osterholz-Scharmbeck ist auch für Lilienthal zuständig. In Gesprächen mit den Pastoren und Pastorinnen komme das Thema Altersarmut häufig zur Sprache. Persönlich sei sie bei Trauerfeiern mit der Altersarmut konfrontiert: Besonders in städtischen Regionen finanziere das Sozialamt häufig Beerdigungen, für die die Verstorbenen kein Geld zurücklegen konnten.
Beunruhigend findet Rühlemann bei solchen Zeremonien die geringe Zahl der Trauernden. Häufig seien nur zwei oder drei Personen anwesend. Die Kirchenkreis-Vorsitzende führt dies auf die Armut der Verstorbenen zurück. Sie ist überzeugt: „Einsamkeit und Armut gehen gerade bei Senioren und Seniorinnen Hand in Hand. Wenn sie sich keine Vereinsbeiträge oder Besuche im Café leisten können, fallen sie häufig aus dem sozialen Netz heraus.“
Landwirt Tetens ist jedoch fest in einem Verein integriert. Auch seine Frau trifft sich regelmäßig mit den weiblichen Familienmitgliedern, sogar im Café. Gänzlich am Leben der Gesellschaft nehmen sie jedoch trotzdem nicht teil. So war das Paar nach eigenen Angaben noch nie im Urlaub, weil es sich das nicht leisten konnte. Selbst mit dem laufenden Landwirtschaftsbetrieb hätten sie nicht viel verdient. Seit beide vor zehn Jahren „in Rente“ gegangen sind, ist das Geld für sie zu knapp. Seitdem gehen sie zur Tafel, um ihre Haushaltskasse zu entlasten. Gerda Urbrock, die Leiterin der Lilienthaler Tafel, kennt das Paar gut: „Sie waren von Anfang an dabei.“ Trotzdem wollen die Tetens' nicht, dass jemand von ihren Tafelbesuchen erfährt. Scham, die Urbrock nur zu gut von Bedürftigen kennt, aber nicht nachvollziehen kann: „Es ist doch keine Schande, wenn sie zu uns kommen.“ Sie würde sich persönlich wünschen, dass mehr Senioren das Angebot der Tafel nutzen. Bisher seien es nur wenige, überwiegend Alleinstehende. Dabei höre Urbrock häufig persönliche Berichte von Frauen in Lilienthal, die nur 600 Euro Rente zur Verfügung hätten. „Das sind Frauen, die manchmal gar nicht gearbeitet haben“, sagt sie.
In einem bezahlten Job habe sie auch noch nie gearbeitet, erzählt Heike Tetens. Sie sitzt am Steuer ihres kleinen Autos, dessen Armaturenbrett mit einem dunkelbraunen Staubfilm überzogen ist. Die grüne Moorlandschaft zieht an den Fenstern vorbei. Eine bezahlte Arbeit stand für sie aber auch nie zur Debatte: Mit 15 habe sie die Haushaltsschule verlassen und unterkommen müssen, erzählt sie. Mit 16 heiratete sie den damals 31-jährigen Landwirt Rolf Tetens. Kurze Zeit später brachte sie ihren ersten Sohn zur Welt. Manchmal denke sie, dass sie nicht so früh hätte heiraten sollen. „Ich habe eigentlich gar nichts gesehen in meinem Leben“, sagt die Hausfrau.
Stattdessen war sie mit Sorgearbeit beschäftigt: Sie zog zwei Kinder auf, pflegte ihre Schwiegereltern und ihren eigenen Vater. Heute hilft sie ihrer Tochter jeden Tag bei der Betreuung der Enkelkinder. Unbezahlte Arbeit, die ihr in einigen Jahren nur eine Mütterrente einbringen wird. Die Lilienthalerin zählt so zur Gruppe der „familienorientierten Frauen“, wie es in einer Studie von Antonio Brettschneider und Ute Klammer heißt, die die Bundesregierung in ihrem jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht anführt. Diese Frauen sind einem besonders hohen Armutsrisiko ausgesetzt. Vier weitere Risikogruppen sind Selbstständige, Personen mit Migrationshintergrund, Ostdeutsche und Menschen mit persönlichen Einschränkungen wie etwa einer Suchterkrankung.
Ihre Armut kann eigentlich nur die Bundesregierung bekämpfen und das hat diese sich auch auf die Fahnen geschrieben: Im Koalitionsvertrag hat sie deutliche Verbesserungen für Rentner und Rentnerinnen festgeschrieben, von denen bereits einige Teil des Rentenpakets sind, das der Bundestag Anfang November verabschiedet hat. Geplant ist die Anhebung des Sicherungsniveaus der gesetzlichen Rente auf 48 Prozent bis 2025. Dabei soll der Beitragssatz auf maximal 20 Prozent steigen. Außerdem sind Verbesserungen bei der Mütterrente geplant. Alle Mütter und Väter mit Erziehungszeit, deren Kinder vor dem Jahr 1992 geboren wurden, sollen mehr Geld bekommen.
Beim fehlenden Geld sieht auch Heike Tetens das Hauptproblem. „400 Euro mehr im Monat, das wäre angenehm“, sagt sie. Doch Arbeitslosengeld vom Jobcenter will sie vor ihrem Renteneintritt nicht beantragen. Dann würde die Rente ihres Mannes voll angerechnet werden und sie müssten ihren Hof verkaufen, erklärt sie. So sei es auch bei ihrer Schwester gewesen. Sie selbst habe jedoch noch nie eine professionelle Beratung aufgesucht und sie habe es auch nicht mehr vor. Fast wirkt es so, als hätte sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden.