Osterholz-Scharmbeck. Wein, Bier, Schnaps? Das alles gibt es bei Heidrun Michaelis nicht. Saft, Mineralwasser oder Kaffee ist auf jeden Fall vorhanden, und das hat einen triftigen Grund. Sie und ihr vor einigen Jahren verstorbener Mann Gerhard entschieden sich vor fast 40 Jahren für ein abstinentes Leben. Der Weg dorthin war hart, doch es hat sich gelohnt. Heidrun Michaelis geht es gut. Das große Haus mit dem lichten Inneren wirkt genauso aufgeräumt, wie das Leben der heute 77-Jährigen.
Entscheidenden Anteil daran hat die Guttempler-Gemeinschaft Klosterholz, deren Sprecherin Heidrun Michaelis heute ist – eine Aufgabe, die sie von ihrem Mann übernahm. Die Lösung der Guttempler hat die gebürtige Worpswederin denn auch verinnerlicht: „Ich heiße Heidrun Michaelis und ich lebe alkoholfrei.“ Sie spricht so offen über die gesellschaftlich akzeptierte Droge, dass es Menschen, die mit der damit verbundenen Sucht nichts zu tun haben, durchaus Angst und Bange werden kann. Heute ist Alkoholismus zwar längst als Krankheit anerkannt. Doch das ändert nichts daran, dass weite Teile der Bevölkerung nicht so gerne darüber sprechen.
Heidrun Michaelis kann es – an diesem Morgen tut sie es an ihrem geschmackvoll gedeckten Frühstückstisch. Es gibt kunst- und liebevoll angerichteten Aufschnitt, daneben Käse und Eier. Auch die Nektarinen und Erdbeeren verdienen in ihrer Anmutung das Prädikat „besonders wertvoll“. Für die überzeugte Guttemplerin ist es eigentlich nichts Besonderes. „Obst gehört bei mir jeden Tag dazu.“ Auch, wenn schon ein oder zwei Teile auf dem Teller fehlen, ist dieser doch ein spezielles Fotomotiv wert.
Eine Herzensangelegenheit
Über Alkoholismus zu sprechen und Menschen zu helfen, die damit leben, ist Heidrun Michaelis eine Herzensangelegenheit. „Das ist ja eine Krankheit, die schleichend kommt“, sagt sie beim Aufschneiden ihres Brötchens. Wie der Alkoholismus das Leben einer Familie belasten kann, hat sie selbst mitbekommen: In den 1970er-Jahren trat die Sucht zuerst ins Leben ihres Mannes, dann als Mitbetroffene auch in das Leben seiner Frau und der beiden Söhne. Aber sich zu trennen, wie es damals schon Fachleute empfahlen, kam für Heidrun Michaelis nicht infrage.
Das Gegenteil war der Fall: Heidrun Michaelis und ihr Mann suchten Hilfe – und fanden sie schließlich bei den Guttemplern. „Ich möchte wissen, was Du dort sagst“, begründete er anfangs sein Mitziehen. Wie alle Hilfesuchenden, erkannten Heidrun und Gerhard Michaelis: Mit dem Besuch der Gemeinschaft ist nicht alles gut. „Dann fängt es erst an“, sagt die Guttemplerin. Für jeden Erkrankten heißt es dann nämlich, das Leben neu zu organisieren, sprich: Im Alltag ohne Alkohol klar zu kommen. Das sei ein harter, steiniger Weg, beschönigt Heidrun Michaelis nichts. Vor allem eines hat sie kennengelernt: Unter Freunden und Bekannten trennt sich die Spreu vom Weizen. Heidrun Michaelis erinnert sich, während sie ihrem Besuch Kaffee nachschenkt: „Man merkt, welche Menschen die echten Freunde sind.“ Plötzlich seien einige Menschen nicht mehr da gewesen. Jedoch: „Wir haben auch viele neue Freunde gefunden.“
Diese Entwicklung ist größtenteils dem Zeitgeist beziehungsweise der damaligen Einstellung zum Alkohol geschuldet. Heidrun Michaelis nahm 1981 Kontakt zu den Guttemplern auf – in einem Jahrzehnt also, in dem es völlig normal war, sich beruflich und privat den einen oder anderen Schluck zu gönnen. „Es wurde ja alles begossen“, sagt Michaelis mit dem Abstand von fast 40 Jahren Guttemplertun. So sei auch ihr Mann ans Trinken gekommen. Er habe viel zu beruflichen Fortbildungen gemusst. „Und was machen verheiratete Männer abends? Sie trinken Bier.“
Sie hat so viel zu berichten, dass sie kaum dazu kommt, die zweite Hälfte ihres Brötchens zu essen. Heidrun Michaelis erzählt, wie sie und ihre Familie ihrem Leben einen neuen Dreh gegeben haben. Auch wenn ihr Mann zwei Rückfälle hatte, wurde er Sprecher der Guttempler-Gemeinschaft Klosterholz. Das Paar beschritt den Weg, den die Guttempler laut Michaelis so schön beschreiben: „Vom Ich zum Du zum Wir.“ Übersetzt: Hilf zuerst Dir, dann Deinem Nächsten und dann der Gesellschaft.
Heidrun Michaelis führt die Arbeit ihres Mannes fort, und das ist ihr extrem wichtig. Denn noch immer sind die Guttempler gefragt – zwar anders als vor wenigen Jahren, aber sie helfen noch immer Menschen dabei, Wege in ein abstinentes Leben aufzuzeigen. Allerdings habe sich der Umgang gerade der jungen Leute mit dem Thema Alkoholismus verändert. Die Anzahl derer, die festes Mitglied bei den Guttemplern werden, nehme ab. Verbindlich einmal wöchentlich zu den Treffen zu kommen und vielleicht noch Aufgaben zu übernehmen, sei heute nicht mehr allzu beliebt. Junge Menschen kämen unter anderem, um vom Gericht verlangte Auflagen etwa nach dem Entzug des Führerscheins zu erfüllen.
Heidrun Michaelis schafft es, in ihr Brötchen zu beißen – Zeit, die unvermeidliche Frage nach der Guttempler-Arbeit vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie zu stellen. Man halte die Arbeit am Leben, die Mitglieder riefen sich gegenseitig an, freut sich Heidrun Michaelis. Und Hilfeschreie gebe es auch trotz Pandemie. „Wenn Menschen anrufen, haben sie Druck“, sagt Heidrun Michaelis, „dann kann man das nicht auf die lange Bank schieben. Oft verlieren sie dann schon wieder den Mut."
Kontakte:
Guttempler-Gemeinschaft Klosterholz, Heidrun Michaelis, Telefon 04791/2989, E-Mail heidrun.michaelis@guttempler-ohz.de.
Guttempler-Gemeinschaft OHZ-Nord, Helga Uhden, Telefon 04791/12769, E-Mail helgauhden@ohznord.de, www.guttempler-ohz-nord.de.
Guttempler-Gemeinschaft Osterholz-Scharmbeck, Edelgard Kairies, Telefon 04791/7708, E-Mail edelgard.kairies@guttempler-ohz.de.
Guttempler-Gemeinschaft Worpswede, Walter Thoden, Telefon 04283/1698.