Osterholz-Scharmbeck. Wer bei Marc Werde klingelt, wird laut empfangen. Die beiden Hunde Isabella und Shy zeigen dem Besucher, dass sie hier wachen. Und bevor Werde überhaupt die Tür zu seiner Wohnung im Osterholz-Scharmbecker Ortsteil Sandhausen öffnet, pfeift er seine aufmerksamen Vierbeiner zurück. Es dauert denn auch nicht lange bis Ruhe herrscht, im Gegenteil: Isabella lässt sich schon kurze Zeit später ausgiebig vom Besuch kraulen.
Derweil bereitet Marc Werde in seiner aufgeräumten Küche das Frühstück zu – zwischen zwei Türen, dem Flur und zwei Wänden entwickelt sich das Gespräch. Der 57-Jährige agiert sicher, heute „nur mit leichtem Tages-Make-up“. Er muss dabei lachen. Make-up? Das gehört zu Werde dazu, denn er ist Travestie-Künstler. Auf der Bühne steht er als Saskia Caprice, so auch an diesem Wochenende auf Gut Sandbeck mit seiner multimedialen Bühnenshow „Klassisch. Fantastisch“.
Das Vorhaben wirft zwar in Form des einen oder anderen notwendigen Telefonats und diverser mit einem „Ping“ oder „Dingdong“ eingehender Nachrichten auf dem Smartphone seine Schatten voraus. Doch nervös ist Marc Werde auf keinen Fall, sondern auf das Gespräch fokussiert. Frühstücken, das geschieht bei ihm in einer aufgeräumten Wohnung. In der Ecke steht ein ausziehbares Sofa, daneben echte Vintagemöbel: ein Nierentisch mit den passenden Stühlen. Abgerundet wird das Bild durch einen Glasschrank, der irgendwann zwischen Gründerzeit und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden ist, und einen Küchenschrank, wie er sich in den 1920er-, 1930er- und vielfach noch bis in die 1970er-Jahre in den Haushalten fand. Marc Werde selbst bezeichnet seinen Stil als eine „Mischung aus Modern und Retro“. Ein bisschen Blingbling darf es aber auch noch sein - das besorgt die türkische Bank vor dem Frühstückstisch.
Während Werde mit Aufschnitt, Käse und Spiegelei mit Speck aus der Küche kommt, erzählt er: „Die Bank ist das einzige Möbelstück, auf das die Hunde nicht dürfen.“ Der Grund: „Es ist fast unmöglich, die Haare herunterzubekommen.“ Der Blick auf Isabella und Shy wiederum führt zu der Frage nach der Rasse. „Jeder durfte mal“, ist Marc Werdes Antwort.
Seine Kommandos gibt er auf Spanisch, denn dort lebte der Künstler 35 Jahre lang. Mallorca, Ibiza, Menorca, Italien, Liechtenstein, Luxemburg, Schweiz, Österreich und natürlich Deutschland – Marc Werde ist mit großen und kleinen Shows quer durch Europa getingelt. Angefangen hat das alles im Jahr 1982 in einem kleinen Bremer Cabaret. Er wettete mit dem Geschäftsführer um eine Kiste Bier, dass er so ganz ohne Erfahrung als Travestiekünstler auftreten könne. „Ich habe die Wette gewonnen“, meint er. Die Weichen waren gestellt.
Exlusivverträge
Zunächst ging der Osterholz-Scharmbecker mit nach Ulm. „Ich hatte nichts Besseres vor“, sagt er grinsend. Dann zog es ihn erst einmal für ein halbes Jahr nach Spanien. Eigentlich habe es ihm dort zuerst gar nicht gefallen, blickt er zurück. Doch die Umstände ergaben es, dass es Marc Werde noch einmal versuchte und blieb. So stand er 1985 die erste Sommersaison auf Mallorca auf der Bühne. Vier Jahre später schloss Werde Exklusivverträge mit einer spanischen Agentur. 1991 erweiterte die die Produktion auf vier Gruppen und arbeitete dabei mit internationalen Artisten.
Weitere acht Jahre später schaffte es der Norddeutsche, die nach seinen Worten erfolgreichste Travestieshow auf der Deutschen Lieblingsinsel auf die Beine zu stellen. Ab 2005 erblickte Saskia Caprice Stück für Stück das Licht der Künstlerwelt. „Ich mag keinen neben mir haben, der mich bremst“, sagt Marc Werde zur Begründung seines Alleinganges.
Der führte ihn schließlich mit seiner Figur im Gepäck nach Deutschland, um eine neue Show auf die Beine zu stellen. Die Aussichten, mit seiner Kunst in den heimischen Gefilden Geld zu verdienen, waren recht gut. Zwei ausverkaufte Shows, das Osterholzer Erntefest, diverse Geburtstag – alles schien zu laufen. Doch dann traf Marc Werde die ausbrechende Corona-Pandemie mit voller Wucht. Alle Pläne fielen wie ein Kartenhaus zusammen.
„Das ist für mich Kunst“
Kurze Pause, Marc Werde zündet sich einen Zigarillo an. Er hat Zeit, über die Frage nachzudenken, ob Travestie für ihn Kunst oder eine Lebenseinstellung ist. Die Antwort kommt rasch: „Das ist für mich Kunst.“ Seine Lebenseinstellung ist eine andere. Darüber muss er indes ein wenig länger nachdenken, bis er die passenden Worte findet: „Leben und leben lassen. Mir ist ziemlich egal, was jemand denkt, was er ist und wo er herkommt, solange er mir nicht an den Karren pisst.“ Geschehe das, mache er es auch.
Nun blickt der Travestiekünstler auf dieses Wochenende. Die Besucher erwarte ein multimediales Spektakel. Dafür zieht sich Marc Werde bis zu 20 Mal um. Etwa 25 bis 30 Sekunden Zeit bleiben ihm jeweils dafür – eine „körperliche und nervliche Belastung“, wie er zugibt. Ohne Garderobenhilfe geht da gar nichts. Und wenn es doch mal klemmt, bringt ihn das auch nicht aus der Fassung. „Alle Pannen, die mir passieren können, sind mir passiert“, lacht Marc Werde: „Hüpfende CDs, Bandsalat, Stromausfall und hinfallen.“