Landkreis Osterholz. Wolfgang Hensen redet Klartext. Der 64-jährige Physiotherapeut übt seinen Beruf seit 1982 aus. Seit mehr als 30 Jahren hat er eine eigene Praxis in Osterholz-Scharmbeck. In dieser Zeit hat der Landesgruppenvorsitzende Bremen-Bremerhaven des Verbands „Physikalische Therapie“ beobachtet, wie die Wertschätzung für die Heilberufe Physio- und Ergotherapie sowie Logopädie und Podologie ebenso wie für Hebammen schwand. „Wenn es kein Umdenken gibt, wird dem Pflegenotstand der Therapienotstand folgen“, ist Hensen überzeugt.
Er ist nicht allein: Bundesweit machen seit Monaten Tausende von Therapeuten auf ihr Los aufmerksam. Darauf, dass sie für ihre dreijährige Ausbildung rund 18 000 Euro Schulgeld zahlen müssen. Einmal im Beruf, verdienen sie nur 2200 Euro brutto. „Das ist bundesweiter Durchschnitt“, sagt Hensen. In manchen Bundesländern verdienten Therapeuten nur knapp über dem Mindestlohn.
Dazu kämen teure Fortbildungen für Anwendungen, die im Beruf vorausgesetzt würden, aber nicht zur regulären Schulausbildung gehörten. Hensen nennt die manuelle Therapie. „Diese Fortbildung umfasst 260 Stunden.“ Dauer: zwei Jahre. Inklusive Prüfung kämen dafür ein paar Tausend Euro zusammen. Um das wieder reinzuholen, müssten sie lange arbeiten, denn pro Behandlung gebe es zwei Euro mehr für die Leistung. Die manuelle Therapie sei nur ein Beispiel: „Mittlerweile sind gut 40 Prozent unserer Leistungen Zertifikatsleistungen.“
Einer der Therapeuten, die auf diese Probleme aufmerksam machen, ist der Physiotherapeut Heiko Schneider aus Frankfurt am Main. Im März hat er einen Brandbrief an den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) geschickt. Zwei Monate später stieg er aufs Rad und fuhr nach Berlin, um den Politikern gut 3000 weitere Brandbriefe von Kollegen auszuhändigen.
Unterdessen laufen im Internet weitere Aktionen, melden sich Therapeuten wie Patienten unter Stichworten wie „ohne-physios.de“, „nicht ohne meinen Physiotherapeuten“, „Therapeuten am Limit“ zu Wort. Sie machen ihrem Frust Luft. Erzählen etwa von ihrer 40 Stunden-Woche als Physiotherapeut in einer niedergelassenen Praxis und ihrem 40-Stunden-Zweitjob als Personal-Trainer im Sportstudio, weil der Verdienst als Physiotherapeut für eine Familie nicht reicht. Andere frustriert die 20-Minuten-Taktung der Behandlungszeit inklusive Aus- und Ankleiden des Patienten sowie Befundung.
Wolfgang Hensen weiß, wovon sie sprechen: „Wir sind viel zu lange brav gewesen. Jetzt, wo es brennt, wo uns der Nachwuchs ausgeht, wir schlecht bezahlt werden, die Wertschätzung unseres Berufs futsch ist und die Daumenschrauben der Kassen schmerzen, müssen wir den Rundumschlag machen, um da rauszukommen.“ Untermauert wird die Schilderung durch eine Studie der Fresenius-Hochschule Idstein. Sie zeichnete vor einem Jahr ein drastisches Bild vom Zustand der Therapie-Berufe: Von 984 befragten Therapeuten habe jeder Vierte den Beruf gewechselt; fast jeder Zweite denke darüber nach.
Und die Fachkräftelücke droht immer weiter auseinander zu klaffen, wie eine Untersuchung zur Entwicklung der Gesundheitsberufe im Land Bremen zeigt. Demnach sind dort aktuell 1471 Physiotherapeuten tätig. Mit mehr als 250 Personen sind die meisten von ihnen 50 bis 54 Jahre alt. Bei den Jüngeren kommt wenig nach: Nur 50 sind zwischen 20 und 24, etwa 100 zwischen 25 und 29 Jahre alt. „Die Schulen sind leer“, sagt Hensen. Setze sich diese Entwicklung bei den Absolventenzahlen fort, würden im Jahr 2035 im Land Bremen gut 430 Physiotherapeuten fehlen.
Selbstausbeutung als Ausweg
Die Folgen sind längst spürbar: „Momentan bleibt eine freie Stelle 150 Tage lang vakant; 2016 waren es noch 140 Tage“, so Hensen. Viele Praxen-Inhaber fänden keinen Nachfolger. Entsprechend lesen sich die Stellenausschreibungen, in denen die Bewerber mit allem Möglichen umworben werden – von freier Arbeitszeitwahl bis hin zu übertariflichen Löhnen. Dabei könnten sich die Praxen gerade die gar nicht leisten, sagt Hensen: „Viele niedergelassene Praxen sind fast bankrott.“ Um nicht unterzugehen, würden die Inhaber sich selbst ausbeuten, 40 bis 50 Stunden mit Patienten arbeiten, anschließend die Büroarbeit erledigen.
Eines der Hauptprobleme, so erläutert der Deutsche Verband für Physiotherapie, sind die seit 1993 gesetzlich gedeckelten Möglichkeiten bei den Gebührenverhandlungen mit den Kassen. Während die Ausgaben für die Führung einer Praxis immer mehr gestiegen sind, blieben die Einnahmen aufgrund minimaler Vergütungssteigerungen von Behandlungen fast gleich, bestätigt Hensen. Diese Deckelung sei zwar momentan für drei Jahre ausgesetzt. Er fürchtet aber, dass sich das kaum auf die Einnahmen der Praxen auswirken werde. Denn als Folge anderer Verhandlungen zwischen Kassen und Ärztevereinigungen würden die Ärzte weniger Patienten überweisen. Und diejenigen, die kämen, „warten wegen der Engpässe in den Praxen schon heute bis zu 14 Tage auf einen Termin“, berichtet er.
Wolfgang Hensen und seine Kollegen sehen viele Stellschrauben, an denen gedreht werden müsste. Eine Forderung der Heilberufe-Vertreter ist die Abschaffung des Schulgelds. Eine weitere die Erhöhung der Gebühren. Zudem sollte die Vorgabe der 20-Minuten-Taktung aufgehoben werden. Wichtig sei auch, die bürokratischen Hürden abzubauen wie etwa die Prüfpflicht, ob das Rezept vom Arzt korrekt ausgestellt wurde.
Der Hilfeschrei der Therapeuten ist anscheinend in Berlin gehört worden: Für den heutigen Donnerstag hat Bundesminister Spahn die Vertreter der Heilmittelverbände zu Gesprächen eingeladen. Den Verbänden geht es dabei um nicht weniger als um ein Sofortprogramm. Ihr Argument: Von einer gesunden Sparte der Heilmittelberufe profitieren Gesellschaft und Wirtschaft. Durch die Arbeit der Therapeuten „werden Krankentage eingespart, Operationen vermieden; es werden weniger Medikamente benötigt; und Physiotherapie verhindert, dass Patienten in die Pflege abrutschen.“ Das sei nicht nur für die Patienten von hohem Wert; es sei auch für die Gesellschaft günstiger.