20 Meter hoch schlugen die Flammen in den Nachthimmel über Ritterhude. Hinter einem schnell und immer schneller wachsenden Pilz aus Rauch und Qualm verschwanden die Sterne. Bereits eine Minute bevor sein Melder in eine schier endlose Alarmierung startete, hatte Jochem Pieper die Druckwelle gespürt. In Bremen. In Findorff. "Da habe ich gewusst, das ist nichts Kleines", erinnert sich der damalige Gemeindebrandmeister an die Explosion auf dem Gelände des Chemie-Recylcers Organo-Fluid in Ritterhude. Am 9. September jährt sie sich zum zehnten Mal.
25 Stunden und 25 Minuten sollte es dauern, bis das Feuer komplett gelöscht war und die Feuerwehr die Einsatzstelle an die Polizei übergeben konnte. Bis sämtliche Ausrüstungsgegenstände – von den durch Lösungsmittel unbrauchbar gemachten Stiefeln und Anzügen bis hin zu den zerstörten, klebrigen Schläuchen – ersetzt waren, sollten Wochen vergehen. Auch gedanklich beschäftigte der wohl größte Einsatz in der Geschichte Ritterhudes Jochem Pieper und seine Kameraden länger als gewöhnlich. "Ich bekomme noch heute Gänsehaut, wenn ich darüber rede", sagt Thomas Becker und denkt dabei an ein bestimmtes Ereignis in jener Nacht.

Kilometerweit waren die Flammen zu sehen. Ein Mitarbeiter starb knapp eine Woche nach der Explosion an seinen schweren Verletzungen.
Vor zehn Jahren war er Ortsbrandmeister von Ihlpohl und leitete den Löschangriff in einem Abschnitt. Sein erster Eindruck: Gewusel. "Wir kamen mit unserem Fahrzeug über den Bahnübergang in die Beekstraße", erzählt er. Überall seien Menschen gewesen. Sie kamen ihnen entgegen. Manche rannten.
Die Druckwelle hatte rund 40 Wohnhäuser beschädigt, die um den Chemie-Recycler standen. Sie hatte die Fenster zersplittert und in Geschosse verwandelt, hatte die Türen in die Flure geschleudert, die Garagentore aus den Angeln gerissen und die Pfannen von den Dächern gefegt. In den umliegenden Gärten und auf den Gleisen der Eisenbahnstrecke Bremen-Bremerhaven lagen Teile der Metall-Verkleidung des Fabrikgebäudes. Von 21.09 Uhr bis 6.10 Uhr am nächsten Morgen fuhr dort kein Zug. Die Polizei evakuierte die Gegend, schickte die Menschen ins Hamme-Forum, zu DRK, Ärzten und Notfallseelsorgern. Manche von ihnen sollten erst Monate später in ihr Zuhause zurückkehren können. Denn Statiker erklärten die Gebäude am Tag nach der Explosion für unbewohnbar.

Erst mit Wasser, dann mit Löschschaum bekämpften die Feuerwehrleute aus Niedersachsen und Bremen das Feuer. Jahrelang ermittelten die Behörden in Sachen Ursache und Schuldige.
Genau dorthin, von wo die Menschen panisch flüchteten, steuerten die freiwilligen Feuerwehrleute aus Ritterhude, Scharmbeckstotel, Osterholz-Scharmbeck und Bremen ihre Fahrzeuge. Sie taten dies freiwillig, ehrenamtlich.
"Die Ortsfeuerwehr Ritterhude war zuerst da", erinnert sich Jochem Pieper. Mit Kreisbrandmeister Jan Hinken und der Fachgruppe Information und Kommunikation leitete er den Einsatz. Sie verschafften sich einen Überblick, legten Einsatzabschnitte fest, alarmierten Helfer nach, reagierten, lösten Probleme. "448 Kräfte waren im Einsatz, davon 104 aus Ritterhude", sagt Pieper und bezieht in diese Rechnung alle ein: vom Deutschen Roten Kreuz (54 Personen) und den Ärzten (3) über die Polizei (50 Leute) und das THW (37) sowie den Umweltschutz-Zug des Landkreises (52) bis hin zur Werksfeuerwehr von Merceds Benz (4). "Das Ganze war eine Riesenherausforderung", sagt Pieper. Aber es habe super geklappt. "Ein Rädchen griff ins andere", nickt Becker.

Nach der Explosion konnten einige der Anwohner erst Monate später zurück in ihre Häuser. Die Gebäude waren stark beschädigt worden.
Um 20.53 Uhr war die Erst-Alarmierung rausgegangen. Aber kaum waren die Wasserwerfer aufgebaut, gaben die Feuerwehrleute selbst Fersengeld. "Wir hörten ein lautes Pfeifen", sagt Thomas Becker. Sekunden später erschütterten weitere Explosionen die Reste der Fabrik und den gesamten Kiepelberg. "Danach sind wir direkt zurück." Mit ganzer Wasserkraft hielten sie die nächsten Stunden gegen die Flammen. Sie mussten verhindern, dass das Feuer auf ein benachbartes Reetdachhaus übergriff, mussten die Flammen unter Kontrolle kriegen und die verbliebenen Behälter der Recycling-Fabrik runterkühlen.
"Gegen 23.20 Uhr riefen die Stadtwerke an", erinnert sich Pieper. "Es hieß, wenn wir weiter so viel Wasser abzapften, wäre der gesamte Landkreis in 1,5 Stunden ohne Trinkwasser." Zu Löschschaum zu greifen, sei noch keine Option gewesen. Bei solch hohen Temperaturen funktioniere das nicht. "Die Bremer haben uns den Hintern gerettet", so Pieper. Die Nachbarn, die längst im Hintergrund in Bereitschaft gestanden hatten, kamen mit ihrem Wasserfördersystem an die Landesgrenze. 40 Minuten nach dem Anruf arbeiteten die Feuerwehren nur noch mit Wasser aus der Hamme. "Dadurch haben wir in der Nacht nie Wassermangel gehabt."

Dicht an dicht standen die Tanks auf dem Gelände der Firma.
Thomas Beckers Gänsehaut-Moment liegt zu dem Zeitpunkt bereits mehr als 30 Minuten zurück: "Ich kam von einer Besprechung im Einsatzleitfahrzeug zu meinem Abschnitt zurück; da sah ich meine Leute in der Ruine." Ihre neon-gelben Helme seien leicht zu erkennen gewesen. Jeden Moment konnte ihnen etwas passieren. "Seid ihr verrückt, kommt da raus", habe er gebrüllt: "Dann kam die Antwort: Hier liegt noch einer!" Sie hatten den vermissten Mitarbeiter von Organo Fluid entdeckt. Am frühen Abend hatte er eine Fehlermeldung auf seinem Melder gehabt, war zur Firma gefahren. Sein Auto hatten sie dort gefunden. Doch er blieb vermisst – bis 22.48 Uhr.
Bevor Becker zu der Lagebesprechung gegangen war, hatten sie in seinem Abschnitt entschieden, die Wasserwerfer umzustellen. Als die Geräte abgestellt wurde, hörten sie die Schreie. Der Mitarbeiter lag in der Nähe von drei großen Chemikalien-Tanks und einer in Schieflage geratenen Brandmauer. Zu sechst schafften sie es, ihn zu bergen. Der Schwerverletzte wurde mit einem Hubschrauber in die Medizinische Hochschule Hannover gebracht. "Er hat es leider nicht geschafft", sagt Thomas Becker. Der Mann starb nach einer Woche.

Nach dem Feuer begannen die Ermittlungen und schließlich die Aufräumarbeiten. Heute ist von der Fabrik nichts mehr zu sehen.
Dass die Explosion am Kiepelberg – nur – ein Todesopfer gefordert hat, erscheint wie ein Wunder. Im Einsatzbericht hat Jochem Pieper drei weitere Verletzte vermerkt: eine Person mit einer Fraktur, eine mit Schnittverletzungen und eine mit Kreislauf-Problemen. Um 5.36 Uhr gab er Entwarnung an die Kliniken, die sich auf viele Opfer eingestellt hatten.
Zu jenem Zeitpunkt hatten die Feuerwehren die Flammen seit knapp fünf Stunden unter Kontrolle. Offiziell beendet war ihr Einsatz aber erst am 10. September um 21.47 Uhr. "Bis heute ist die Unglücksursache nicht geklärt", sagt Thomas Becker.