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Disco damals: Red Balloon Rocken unterm Ritterhuder Reetdach

Das Red Balloon in Ritterhude galt als sehr gepflegte Diskothek, in der selten über die Stränge geschlagen wurde. Aber wie kam dann ein Pferd auf die Tanzfläche?
15.12.2024, 05:38 Uhr
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Von Michael Schön

Das Red Balloon unterschied sich Mitte der 1970er-Jahre deutlich von vielen Diskotheken. Nicht nur wegen des reetgedeckten Dachs über dem verqualmten Saal, in dem die spätestens nach ein paar Cola-Weinbrand nicht mehr sonderlich risikobewussten Zigarettenraucher sich gegenseitig Feuer gaben. Zeitzeugen erinnern sich, dass dort Männer mit "Vokuhila"-Frisuren – vorne kurz, hinten lang – keine Seltenheit darstellten, der Parka verpönt und stattdessen "zivile Mode angesagt" war. Der Sanitärbereich war diesen Aussagen zufolge ebenso gepflegt wie die Streitkultur, die weitgehend ohne Schlägereien auskam. Es wurde auch mehr getanzt als herumgezappelt. Dazu passte die musikalische Visitenkarte, mit der die Abende eingeläutet wurden: "The Red Balloon" von der Popband Dave Clark Five, britische Pilzköpfe, die sich zumindest auf ihren Plattencovers recht brav und bieder gaben.

Das Red Balloon in Alt-Ritterhude war eine Schöpfung des Unternehmers Bernd Weber, der auch in die Bremer Gastronomie investierte. Aber nicht Weber selbst, sondern seine Frau Hannelore, eine attraktive Blondine, galt als wichtigste Person im Tanzlokal, nicht nur, weil sie den Ausschank leitete. Sie stand zusammen mit Archie hinter dem oberen Tresen, der sich – von dem der Hamme zugewandten Eingang aus gesehen – rechts auf einer Empore befand. Ein guter Platz, um immer den Überblick zu behalten. Links war das Pult für weitere RB-Legenden, Discjockeys wie Klaus Brandenburg, der im selben Gebäude auch eine Wohnung bezogen hatte, und Patrick, wegen seiner niederländischen Herkunft auch der fliegende Holländer genannt. Sie spielten Soft-Rock und Pop, an den Wochenenden die aktuellen Hits rauf und runter. Vor allem zum Tanzen mussten die Scheiben unbedingt animieren. Allerdings war an den Wochentagen auch Platz für die Nische: Black Music oder auch lupenreiner Soul.

Der Abriss des alten Bauernhauses erfüllte viele Menschen, die sich in ihrer Jugend im Red Balloon vergnügt hatten, mit Wehmut und Schmerz. "Da war immer was los. Die Abende dort waren in diesem Abschnitt ein ganz wichtiger Teil des Lebens", sagt ein heute 75 Jahre alter Ritterhuder. Bis zu 50 Jahre ist das her. Er verfügt aber über ein sehr gutes Gedächtnis und bereut es keineswegs, sich damals so viele Nächte im Red Balloon um die Ohren geschlagen zu haben. "Ich habe damals in Aumund gewohnt. Als ich noch kein Auto hatte, fand sich in unserer Clique immer jemand, der uns chauffiert hat", berichtet der Rentner, der um Verschwiegenheit gebeten hat, was seinen Namen angeht. "So viermal wöchentlich war Hully Gully." Motto-Abende, gesponsert von Firmen, die Getränke verkaufen wollten, Comedy, Travestie und Medley-Partys.

Der Mann verlässt den Raum, um mit einem halb vollen Fläschchen Żubrówka zurückzukommen. "Das ist Büffelgras, ein polnischer Wodka, den wir bevorzugt mit Bitter Lemon getrunken haben." Inzwischen steht ihm nicht mehr so sehr der Sinn nach hochprozentigen Spirituosen, aber so einfach ins Spülbecken kippen möchte er den Flascheninhalt auch nicht. Das käme ihm wie ein Sakrileg vor. Mit der flüssigen Devotionalie sind die Erinnerungen an lange Abende verknüpft, in denen geschwoft und geflirtet wurde. Er nippte mit kontrollierter Defensive am Cola-Whiskey oder an grünen Likören, um noch fit zu sein, wenn in den frühen Morgenstunden ins Bremer Viertel, zum Hamburger Fischmarkt oder nach Pennigbüttel und Oyten aufgebrochen wurde. "Da konnte man die Diskotheken-Tour gut ausklingen lassen."

Er kann als weitere Trophäen noch drei Gläser mit dem bekannten RB-Aufdruck, gold auf rotem Grund, präsentieren. Er hat sie damals stibitzt, was er gern zugibt, hat er im RB doch nicht nur getanzt und sich redlich gemüht, die Aufmerksamkeit von mindestens einem der zahlreichen hübschen Mädchen zu erregen, sondern auch beim Ausschank mitgeholfen und eine führende Rolle bei den RB-News gespielt. Für diese Zeitschrift produzierte er Artikel und Interviews, die mit den Veranstaltungen im Red Balloon im Zusammenhang standen. Die drei Gläser betrachtet er somit als ausgesprochen schmales Honorar.

Auch nicht gerade hoch dotiert dürften die Gastspiele von Otto Waalkes, Peter Maffay oder Isabel Varell gewesen sein. Künstler, die erst später einen höheren Bekanntheitsgrad erlangten. Auch diese Namen legen nahe, dass es in der Ritterhuder Disco zuweilen fast schon ein bisschen spießig zuging. Man wahrte möglichst die Contenance, flippte nicht aus. Und wenn doch, dann wurde aber gleich richtig über die Stränge geschlagen: Wie an jenem Sommerabend bei vollem Haus, als ein Reitersmann aus der Goethestraße sein Pferd durch den Hintereingang dirigierte, um es erst auf der Tanzfläche zum Stehen zu bringen. Unser 75-jähriger Anonymus war damals vor Ort und kann über die Vorbereitungen auf den tierischen Auftritt berichten. Es habe sich um eine Wette gehandelt. "Natürlich mussten wir die Tanzfläche räumen und die Musik abstellen, damit das Pferd nicht durchging. Es lief dann auch alles ganz nach Plan." Um was genau es in der Wette ging, dafür kann er freilich keine belastbaren Aussagen mehr treffen.

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Die schöne Zeit des heutigen Ruheständlers im Red Balloon endete übrigens jäh, als er nach 18 Monaten Ortsabwesenheit – wegen seines Dienstes bei der Marine – ein Comeback in seiner Lieblings-Diskothek feierte. Er wurde von einem jungen Mann angerempelt, der sich dafür – trotz entsprechender Aufforderung – partout nicht entschuldigen wollte, sondern stattdessen mit der rhetorischen Frage "Was willst Du, Opa" höchst eskalierend nachlegte. "Da habe ich gewusst, dass meine Zeit im Red Balloon endgültig vorbei war."

Zur Sache

Abgerissen, um Platz fürs Einkaufszentrum zu schaffen

Das Red Balloon befand sich im Zentrum Alt-Ritterhudes. Das Konzept des auch in Bremen investierenden Gastronomen Bernd Weber ging auf. Zufriedene Gäste kamen nicht nur aus dem Landkreis Osterholz und aus Bremen, sondern auch aus Oldenburg, dem Ammerland und dem Raum Bremervörde. Bis der Zeitgeist über die meisten Clubs und Discos hinwegging. Unter dem leicht veränderten Namen "Air B." versprach die Disco in der Ritterhuder Flaniermeile "Spaß und Fun". Doch auch dieser neue Anlauf ging irgendwann ins Leere. Allen Unkenrufen zum Trotz ist das Zweiständer-Bauernhaus nie in Flammen aufgegangen. Es hat also sogar den großen Brand unversehrt überstanden, der Ende des 19. Jahrhunderts in der Riesstraße wütete. Stattdessen kam es – nach langem Leerstand höchst sanierungsbedürftig – im vergangenen Jahrzehnt unter die Abrissbirne. Vier weitere Gebäude mussten weichen, damit Platz für das das neue Einkaufszentrum in Alt-Ritterhude geschaffen werden konnte.

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