Frau Exner, seit etwa einem Jahr gibt es die Gewaltschutzberatungsstelle für Kinder, Jugendliche und Vertrauenspersonen am Campus in Osterholz-Scharmbeck. Sind es in erster Linie Vertrauenspersonen von unmittelbar Betroffenen, die sich von Ihnen beraten lassen?
Christine Exner: Ja, zur Zeit nutzen noch überwiegend Erwachsene, die sich Sorgen um das Wohl eines Kindes machen, unser Beratungsangebot. Aber zunehmend finden jetzt auch direkt betroffene Kinder und Jugendliche den Weg zu uns in die Beratungsstelle. Es freut uns sehr, dass unsere Öffentlichkeitsarbeit wirkt und die Betroffenen sich nach und nach trauen und sich auf den Weg zu uns machen. Manchmal werden die Kinder auch von ihren Freunden begleitet, die ihnen zuvor Mut gemacht haben und somit den ersten Schritt erleichtern. Denn Angst, Scham, Verleugnung, Zerrissenheit, sogar Schuldgefühle sind immer Begleiter der Betroffenen.
Gewalt hat ja viele Facetten. Mit welchen Formen hatten Sie bisher zu tun?Ich persönlich hatte im beruflichen Kontext schon mit etlichen Formen von Gewalt zu tun. Darunter fällt zum Beispiel körperliche Gewalt: Schlagen, Schubsen, Treten, Würgen, psychische Gewalt, Bedrohen, Erniedrigen, Beschimpfen, Manipulieren, Ignorieren, Cyber-Mobbing, Verdacht auf sexuellen Missbrauch, erwiesene sexuelle Übergriffe, Missbrauch, chronische Vernachlässigung durch unzureichende Ernährung, Pflege, Fürsorge, Hygiene und Beaufsichtigung, das Erleben von häuslicher Gewalt. Bundesweit wurden 2017 laut polizeilicher Kriminalstatistik etwa 13 000 Fälle sexuellen Missbrauchs angezeigt sowie fast 8000 Fälle von Missbrauchsabbildungen, sogenannte Kinder- und Jugendpornografie. 1600 Opfer waren jünger als sechs Jahre. Die Dunkelziffer der Betroffenen ist aber um ein Vielfaches höher. Aktuelle Forschungen lassen den Schluss zu, dass jeder siebte bis achte Erwachsene in Deutschland sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend erlitten hat. Die WHO geht für Deutschland von einer Million betroffener Mädchen und Jungen aus, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben. Das sind pro Schulkasse ein bis zwei betroffene Kinder. Sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend hat einen wesentlichen Einfluss auf die Lebensverläufe und Chancen von betroffenen Menschen und belastet sie häufig zum Beispiel durch Traumafolgestörungen ein Leben lang.
Woran liegt es, dass die Dunkelziffern so hoch sind?Hoher Geheimhaltungsdruck, Erpressung, Angst, Bedrohung, Schuldgefühle, Scham, kulturelle Zwänge etc. Den Opfern wird nicht immer geglaubt, wenig Unterstützung der Opfer, mangelndes Selbstwertgefühl. Taten können oft nur sehr schwierig nachgewiesen werden. Für viele Menschen ist das Thema schlichtweg einfach unvorstellbar, und somit findet oftmals keine Sensibilisierung für Anzeichen von Gewalt statt. Die Themen Gewalt an Kindern und Missbrauch von Kindern werden nach wie vor tabuisiert, die belastende Auseinandersetzung damit fällt vielen schwer. Aber Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist in Deutschland immer noch trauriger Alltag – in der analogen wie in der digitalen Welt. Erst seit dem Jahr 2000 ist im deutschen Gesetz verankert, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Das ist erst 19 Jahre her, das heißt, wir sind im Kinderschutz noch in den Anfängen. Noch heute höre ich Sprüche wie „Eine Ohrfeige hat noch niemandem geschadet“, „Das war nur ein Klaps auf den Po“ und “Wer nicht hören will, muss halt fühlen.“ Kinder müssen in ihren Rechten auf eine gewaltfreie Erziehung gestärkt werden. Zivilcourage und Hinsehen sind daher unerlässlich.
Vorfälle, wie sie die Kirche aktuell aufarbeitet und aus Kinderheimen der ehemaligen DDR berichtet werden, sind Ihnen auch aus dem Landkreis Osterholz bekannt?Um die Opfer zu schützen, unterliegen wir hier der Schweigepflicht. Aber Kinderschutzfälle gibt es leider in jedem Ort der Bundesrepublik, auch in unserem Landkreis, also vor unserer eigenen Haustür und in unserem alltäglichen Umfeld. Generell wichtiges Thema ist, dass sich Einrichtungen – Kindergärten, stationäre Wohnformen, kirchliche Einrichtungen, Sportvereine und andere Vereine - mit dem Schutz von Kindern und Jugendlichen professionell und selbstkritisch auseinandersetzen, indem sie beispielsweise Schutzkonzepte erarbeiten und diese in der Praxis leben, sodass dauerhaft sichere Orte für die Betreuten entstehen und gewährleistet werden.
Aus welchen Gesellschaftsschichten kommen die Täter?Aus jeglichen Gesellschaftsschichten. Nur in einem sehr geringen, einstelligen Prozentsatz sind Täter wirklich fremde Personen. Der immense Großteil, über 90 Prozent, sind Personen, die die Betroffenen bereits kennen, zu denen sie schon jahrelange enge Bindungen haben. Der überwiegende Teil sind männliche Täter, Väter und Stiefväter, Brüder, Onkel, Cousins, Großväter, Betreuer, Trainer und so weiter. Es gibt aber auch Mütter oder andere weibliche Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen, die übergriffig, grenzüberschreitend sind und Gewalt ausüben. Für die Betroffenen ist es im Alltag ein zusätzliches Dilemma, dass die Person, zu der sie eine Form von Bindung haben, auch die Person ist, die ihnen Gewalt antut. Die Kinder sind dann im Loyalitätskonflikt und ständig hin- und hergerissen. Denn es gibt ja auch Anteile der Person, die sie durchaus mögen.
Welche Berufsgruppen sind besonders aufgefordert, bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung genau hinzuschauen?Ich finde Zivilcourage und Engagement generell für Kinder wichtig – über alle Berufsgruppen hinweg. Jeder einzelne von uns ist gefragt, sich für die Rechte von Kindern einzusetzen, sie über ihre Rechte aufzuklären und zu informieren und sie in der Wahrnehmung dieser Rechte zu unterstützen. In meiner Beratungspraxis habe ich vorwiegend mit Erzieherinnen, Sozialpädagogen, Lehrern, Therapeuten, Ärzten, Trainern, Jugendgruppenleiter und so weiter zu tun.
Was passiert mit den Informationen, die Sie in der Beratungsstelle erhalten? Sind Sie zur Verschwiegenheit verpflichtet? Und wie weit reicht die?Ich berate die genannten Berufs- und Personengruppen im gesetzlichen Kontext des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und dem Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz. Somit finden die Fallberatungen anonymisiert statt, ich erhalte keine konkreten Sozialdaten zum betroffenen Kind oder Jugendlichen. Ich unterliege der Schweigepflicht und dem Datenschutz. In der Abklärung der Risikofaktoren bei einer möglichen Kindeswohlgefährdung gebe ich den Ratsuchenden Hilfestellung, fange sie in ihrer emotionalen Betroffenheit auf, vermittle Fachwissen, gebe Informationen und zeige ihnen nächste notwendige Schritte auf. Somit können die Ratsuchenden wieder bestärkt und strukturiert handeln, denn oftmals liegt in ihrer Verantwortung als nächster Schritt auch ein Gespräch mit den Personensorgeberechtigten an. Wenn die Risikofaktoren für das Kind dann immer noch nicht in Kooperation mit den Eltern beseitigt werden können, dann ist gegebenenfalls auch eine Kindeswohlgefährdungsmeldung an das zuständige Jugendamt notwendig. Zudem berate ich betroffene Kinder und Jugendliche, die natürlich ebenfalls das Recht auf eine anonyme Beratung haben. Ich unterstütze und berate, und gemeinsam versuchen wir dann einen Weg aus der Gewalt zu finden.
Wer von Ihnen einen Rat bekommen möchte, muss Ihr Büro aufsuchen? Gibt es noch andere Wege?Mail, Telefonat, Gespräch an einem neutralen, für den Klienten passenderen Ort. Ich fahre auch in die Kitas oder Schulen, wenn die Zeitfenster der Ratsuchenden sehr klein sind, um möglichst zeitnah Beratungsgespräche anbieten zu können, besonders bei der Einschätzung von möglichen Kindeswohlgefährdungen.
Welche Hilfestellungen über die eigentliche Beratung hinaus geben Sie noch?Entlastung der oft hoch emotionalen angespannten Situation, Strukturierung, Bestärkung, Ermutigung, entschlossen zum Schutz von Kindern zu handeln. Vernetzung, Vermittlung zu weiteren, spezifischen Beratungs- und Anlaufstellen. Tipps zu Fachliteratur und Fortbildungsmöglichkeiten, Vermittlung von Fachwissen.
Bei der Gewaltschutz-Beratungsstelle handelt es sich um ein Modellprojekt. Ist es eigentlich befristet?Wir sind in dem Sinne kein Modellprojekt, sondern ein weiterer Standort der Niedersächsischen Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche, die von Gewalt betroffen sind und werden mit Mitteln des Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie teilfinanziert. Der Träger der Gewaltschutzberatungsstelle für Kinder und Jugendliche ist das SOS-Kinderdorf Worpswede. Es gibt keine zeitliche Befristung, wir planen, die Beratungsangebote langfristig und nachhaltig auszubauen. Fachberatung und präventive Angebote für Kinder und Familien sind eine Herzensangelegenheit des SOS-Kinderdorf-Vereins.
Das Interview führte Michael Schön.Christine Exner (46)
hat Diplom-Pädagogik mit Schwerpunkt Sozialarbeit/Sozialpädagogik studiert. Bis 2015 war sie in leitender Funktion für die Caritas in Bremen tätig, anschließend im Krisendienst des Kreisjugendamtes Osterholz. Seit Juli 2018 leitet sie die Osterholz-Scharmbecker Gewaltschutzberatungsstelle Beratung für Kinder und Jugendliche des SOS- Kinderdorfs Worpswede.
Beratung für Kinder und Jugendliche
Im Juli 2018 hat der SOS-Kinderdorf-Verein mithilfe von Fördermitteln des Landes und durch Spendengelder eine Gewaltschutz-Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Vertrauenspersonen am Campus in Osterholz-Scharmbeck eröffnet. Betroffene können dort professionelle, schnelle und auf Wunsch anonyme Hilfe erhalten. Christine Exner leitet die neue Einrichtung. Als Diplom-Pädagogin ist sie gleichzeitig Kinderschutz-Fachkraft und Trauma-Therapeutin. Sie hat fast 20 Jahre Erfahrung in der Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt Kinderschutz. Die Beratungsstelle ist im Bildungshaus am Campus, Lange Straße 28, sowie unter Telefon 0 47 91 / 9 65 88 19 zu erreichen. Die E-Mail-Adresse lautet gewaltschutz.kd-worpswede@sos-kinderdorf.de.