Einst wurde sie als "Frau Walter Jens" vorgestellt. Inge Jens ist selbst promovierte Exilliteratur-Expertin, wurde lange Zeit aber nur als Frau des Schriftstellers, Präsident der Akademie der Künste sowie des P.E.N.-Zentrums wahrgenommen. Gemeinsam schrieb das Paar unter anderem den Bestseller "Frau Thomas Mann" und viele andere. In ihrer eigenen Biografie "Unvollständige Erinnerungen", erzählt Inge Jens vom politisch-gesellschaftlichen Leben im Nachkriegsdeutschland und über ihre Ehe, die seit über sechzig Jahren währt. Seit zehn Jahren ist Walter Jens, ehemaliger Professor für Rhetorik, Altphilologie und Literaturgeschichte an Demenz erkrankt. Seine Frau pflegt ihn zuhause in Tübingen, auch dies ist Teil des Buches, das Inge Jens jüngst in Walter Kempowskis "Haus Kreienhoop" vorstellte.
Nartum/Gyhum. Zehn Stunden lang hat Inge Jens für die Anreise ihrer Lesung im Zug gesessen. Von Tübingen nach Bremen. Ohne Heizung und ohne warme Mahlzeit. Die Autorin, 85 Jahre alt, nimmt solche Unwegsamkeiten gelassen hin. Pünktlich um 20 Uhr beginnt am nächsten Tag die vom Radio aufgezeichnete Gesprächszeit mit Journalistin Libuse Cerna in Kempowskis Haus Kreienhoop in Nartum.
Die preisgekrönte Journalistin und die Autorin kennen sich seit über dreißig Jahren. Auf langen Spaziergängen haben sie sich oft unterhalten. "Unsere Männer kannten sich bereits seit Ewigkeiten", erzählt Cerna. Doch über die Männer will sie an diesem Abend möglichst wenig reden. Inge Jens soll im Vordergrund stehen. Deshalb spart sich Libuse Cerna die Fragerei über Walter Jens lange und tragische Krankheitsgeschichte. "Ich weiß, deshalb sind wahrscheinlich viele gekommen, aber das sollte nicht das Thema sein", sagt sie bestimmt, hinter den Kulissen.
Der große Wohnraum in Haus Kreienhoop, in dem der vor fünf Jahren verstorbene Schriftsteller Walter Kempowski einst auf seinem Flügel spielte, ist mit dichten Stuhlreihen bestückt. Rund hundert Gäste nehmen Platz. Hildegard Kempowski begrüßt sie größtenteils per Handschlag. Die Kempowskis und die Jensens kannten sich nie persönlich. "Die Bremer und mein Mann, dazwischen lagen Welten", sagt Gastgeberin Kempowski in Anspielung auf Walter Jens Berufung in den Gründungsrat der Universität Bremen 1971. Trotzdem freue sie sich sehr über den Besuch von Inge Jens. Es sei eine tolle Biografie, die sie verfasst habe.
Die Lesung beginnt mitten im Krieg. Hamburg im Jahre 1943. Inge Jens, damals 16 Jahre alt, hilft in ihrer Heimatstadt im Bahnhofsdienst. Schockierende Szenen, lange Wege durch eine von Bomben zertrümmerte Stadt, die Trennung von ihrer Familie – all dies sind Erinnerungen, die sich Inge Jens vor über drei Jahren von der Seele geschrieben hat. "Zuvor habe ich mich nicht so für mich interessiert. Die Gegenwart war einfach zu stark", sagt die Autorin. "Ich wusste gar nicht, dass ich mir so interessant werden würde." Großes Leid, aber auch – und das macht Inge Jens wohl bis ins hohe Alter so optimistisch – große Glückmomente hingen stets dicht aneinander. Damals im Krieg, nach einem langen Arbeitstag und einer zweistündigen Wanderung von Hamburg-Harburg in die Gartenstadt Wandsbek durch Schutt und Trümmer, kam der Teenager am Abend im Elternhaus an.
Stuck rieselte von den Wänden. Mutterseelenallein blieb Inge Jens dort zurück. Doch Nachbarn teilten mit ihr ein warmes Abendessen und beruhigten sie, dass der Vater lediglich die Mutter und ihre drei Geschwister in Sicherheit bringen wolle und zurückkehren werde. Sie habe dieses Erlebnis durchgängig nie vergessen, sagt die Autorin. "Ich habe es irgendwo hingepackt, wo es so lange bleiben konnte."
Sie sei begünstigt, weil sie Dinge, wie damals das warme Abendessen mit den Nachbarn, trotz der widrigen Gegebenheiten sehr genießen könne. So habe sie ihr ganzes Leben als insgesamt "wunderbar" wahrgenommen. Doch die Autorin erzählt auch von den vielen Tiefschlägen, die sie dabei hinnehmen musste.
Von gesellschaftlichen Zwängen, Mutter zu werden "mit 27 Jahren hat es dann endlich geklappt", von dem Platz in der zweiten Reihe – stets hinter ihrem prominenten Mann. "Wir hatten eine Abmachung. Ich sollte ihm den Ofen einheizen. Er sollte mir griechisch beibringen. Ich heize ihm bis heute den Ofen, aber griechisch habe ich nie gelernt."
Inge Jens sagt solche Sätze ohne Bitterkeit. Sie liebt ihren Mann, den sie 1951 vorzeitig standesamtlich in Tübingen – wegen eines Mietvertrages – und später noch einmal feierlich in ihrer beider Heimatstadt Hamburg geheiratet hat. Ein alter Freund des Paares, der Verleger Ernst Rowohlt, hielt dabei eine große Rede "noch vor meinem Vater", lacht Inge Jens schallend. Ihr Mann hatte zuvor als Schriftsteller mit dem Buch "Nein, die Welt der Angeklagten", den Durchbruch geschafft.
Inge Jens erzählt in diesem Zusammenhang von den legendären Treffen der Gruppe 47, einem Schriftstellertreffen im Hause Hans Werner Richters, bei dem das Reglement, aus heutiger Sicht, überraschend unfrei und engstirnig war: "Anerkannte Schriftstellerinnen wie Ingeborg Bachmann durften etwas sagen, nicht aber die mitgebrachten Ehefrauen, auch nichts fragen." Trotzdem habe sie von den Treffen profitiert, kam mit Ilse Aichinger, Paul Celan, Heinrich Böll, Alfred Andersch und vielen anderen in Kontakt.
Inge Jens erzählt von ihrer kurzen Berufstätigkeit als Redaktionsassistentin einer Literaturzeitschrift und von ihrer Leidenschaft, der Recherche historischer Zusammenhänge anhand berühmter Persönlichkeiten. Sie arbeitete lange Zeit für den Fischerverlag für die Edition Tagebuch. Später erstellte sie gemeinsam mit ihrem Mann Biografien wie "Frau Thomas Mann", "Katias Mutter – das außerordentliche Leben der Hedwig Pringsheim" und viele andere.
Außerordentlich ist auch das Leben der Autorin Inge Jens, die zur Zeit an einem neuen Buch arbeitet. Darin plant sie, einige Aufsätze zu veröffentlichen, die sie über Thomas Mann geschrieben hat. Das Buch sei auch die Folge des "Wegbrechens des Partners", sagt die Autorin. Momentan arbeite sie an dem Vorspann des Buches. Der, handele vom Schreibtisch Thomas Manns, den der Schriftsteller während seiner Emigration durch die ganze Welt verschiffen ließ und der immer gleich aufräumt und bestückt wurde. Im nächsten Jahr soll das neue Buch fertig sein, verspricht Inge Jens ihrem Publikum zum Schluss. Das freut sich drauf.
Inge Jens füllt Haus Kreienhoop
85-jährige Autorin im Gespräch mit Journalistin Libuse Cerna über „Unvollständige Erinnerungen“
Zitat:
"Zuvor habe ich mich nicht so für mich interessiert. Die Gegenwart war zu stark."
Inge Jens