Borgfeld. Hermann Stürmann betritt das Wohnzimmer und steuert geradewegs das Sofa an. Kurz bevor er sich fallen lässt, beugt er sich zu seiner Mutter Anni Stürmann auf die andere Seite des Sitzmöbels und schüttelt ihr die Hand. „Fast vergessen“, ulkt er. Und: „Wir kennen uns schon länger.“ Fast 77 Jahre. So alt wird er demnächst. Aber an diesem Nachmittag geht es um ein anderes Geburtstagskind. Anni Stürmann feiert heute ihren 104. Geburtstag. Gemeinsam mit den beiden Kindern Hermann Stürmann und Waltraut Tiemann erinnert sie in ihrem Wohnzimmer Stationen dieses Lebens.
Anni Stürmann sitzt dabei in ihrer liebsten Sofaecke. Der kleine Tisch mit dem Telefon und der Fernbedienung für den Fernseher stehen neben ihr in Griffnähe. Ein Strahler wirft seinen Lichtkegel auf ihren Schoß. Eine Häkeldecke hält die Knie der zierlichen Frau mit dem straff nach hinten gekämmten Haar warm. Ebenso streng hatte sie ihre Haare schon einmal im Nacken verknotet. Das verhalf ihr zu einer Anstellung, von der sie heute noch gerne erzählt.
Eine Bremer Senatorenwitwe suchte ein Hausmädchen und wollte nur eines einstellen, dass die Haare im Knoten trug. Zwei Jahre blieb Anni Schürmann in der Holleralle in Stellung. „Es war da schön“, sagt sie mit einem Lächeln in der Stimme. Obwohl die Dienstherrin geizig gewesen sei. „Für uns Mädchen holte sie die einfachste Wurst.“ Halb so schlimm, wenn Hausmädchen und Köchin sich bestens verstehen. Letztere sorgte dafür, dass die beiden immer gut zu essen hatten.
Kindheit währte nur 14 Jahre
Aufgewachsen ist Anni Stürmann in Holtum-Geest als Tochter eines Schmiedemeisters. Ihre Kindheit währte 14 Jahre. Dann begann das, worüber sie heute sagt: „Ich habe immer viel gearbeitet.“ Wie im Jahr 1927 üblich, begann dieses Arbeitsleben direkt nach dem Schulabschluss. Ab da schuftete Anni Stürmann in der Küche einer Verdener Bäckerei. Dort sagte ihr die Großmutter, was sie für die Gesellen kochen sollte. Die Runde der Esser war groß, und noch heute stöhnt Stürmann: „Und diese großen Pötte!“ Die wuchtete das junge Mädchen auf den Herd und wieder runter. „Das war nicht so einfach.“
Eines Tages stand der Vater unverhofft im Raum. Als er sah, wie es seiner Tochter da erging, sagte er: „Das lasse ich nicht zu.“ Er kündigte dem Bäcker und nahm sein Kind mit nach Hause. Dort ging sie der Mutter zur Hand bis andere Anstellungen folgten. In der Hollerallee hat sie bis zu ihrer Hochzeit gearbeitet.
1938 gab Anni Stürmann dem Postfachbeamten Friedrich Stürmann das Ja-Wort. Ihre Hochzeit feierten sie in Holtum auf der Diele. Ihre Kraft steckten sie ins eigene Haus. Das entstand 1937/38 in Borgfeld. Dort wohnt Anni Stürmann noch heute. Sie unterm Dach, die Tochter mit Mann im Erdgeschoss. Der Zusammenhalt ihrer Familie sei eng, betonen beide Geschwister. Bruder Hermann wohnt auch nur ein paar Häuser entfernt. Neben Anni Stürmanns Sofaecke hängt ein Stammbaum an der Wand. Den hatte sie zum 100. Geburtstag bekommen. Ein Windlicht vor dem Wohnzimmer erinnert mit seiner Aufschrift auch an dieses Fest.
Mit Lebensjahren wird Anni Stürmann reich beschenkt. Das habe sie sich selber nicht vorstellen können, erzählt sie. Die Jahre der Liebe waren dagegen knapp berechnet. Am 6. Dezember fiel Friedrich Stürmann in Russland. An diesem Nachmittag ist er im Bilderrahmen dabei. Der Schwager hatte sein noch junges Gesicht mit Bleistift einst gezeichnet. Anni Stürmann streicht mit der Hand darüber. Das war ihr Friedrich. Tochter Waltraut Tiemann sagt: „Ich kenne ihn nicht mehr.“ Vier Jahre war sie alt, als sein Leben erlosch.
Da stand sie, die junge Frau mit den zwei kleinen Kindern und einem großen Garten. Gerade einmal 29 Jahre alt. „Ich musste die Kinder alleine großziehen, aber ich habe es geschafft", sagt Anni Stürmann nicht ohne Stolz. Im Garten baute sie nach der Arbeit Gemüse an und verkaufte es. Hermann Stürmann erinnert sich, wie schwer das für die Mutter gewesen sei: die Arbeit und zwei Schulkinder. Essen kochen, bei den Hausaufgaben helfen. Anni Stürmann schaut ihren Sohn an und sagt: „Aber die Kinder haben gut miteinander gespielt.“ Später zog der Lebenspartner Erich Jobstmeier in das Haus mit ein und wurde den Geschwistern ein Ersatzvater.
Die Kinder sind bis heute ihre Freude, auch wenn sie jetzt an jeden Abend die Frage „was wird wohl morgen sein“ mit in die Nacht nimmt. Doch wer die Borgfelderin anschaut, sieht keine 104 Jahre in ihrem Gesicht. Tochter Waltraut Tiemann erzählt fröhlich, dass die Mutter auf gesunde Ernährung achte. Und, dass sie an jedem Morgen nach dem Frühstück die Zeitung von vorne bis hinten lese und damit nicht genug. An jedem Mittwoch kommt eine Zeitschrift ins Haus mit Bildern und Geschichten aus dem Leben der Könige und Promis. Das mag sie gerne lesen, verrät Anni Stürmann lächelnd. Der Mittwoch sei darum der schönste Tag der Woche. Für ihren Geburtstag an diesem Freitag wünscht sie sich: „Die Hauptsache ist, ich bin an diesem Tag noch gut zuwege."