Meti Schiller läuft das Zimmer mit den Stahltischen ab. Sie verlässt den Raum, dann kommt sie zurück. Suchend gleitet ihr Blick ein zweites Mal über die Wagen mit den Obst- und Gemüsekisten und an den vier Wänden entlang. Die Frau mit der orangenen Küchenschürze resigniert angesichts der fehlenden Mülltonne und behilft sich mit einem blauen Müllsack, den sie energisch aufschüttelt und an eines der Tischbeine stellt. Dann greift sie beherzt in eine der oberen Kisten.
Schiller, die eigentlich Meta-Emma mit Vornamen heißt, aber alle als Meti kennen, ist nicht nur eine der mehr als 50 Ehrenamtlichen der Osterholzer Tafel. Sie wird am Donnerstag, 22. Mai, auch 88 Jahre und ist damit die älteste ehrenamtliche Helferin. Immer montags sortiert sie die Essensspenden der Tafel. Sie entsorgt schlecht gewordene Lebensmittel und rettet die guten für die 400 bis 500 Menschen, die wöchentlich die Tafel aufsuchen. Seit Eröffnung der Einrichtung 2009 ist sie dabei.
Wie einen Schatz hält Meti Schiller die Bananen im Arm, bringt die vier Früchte in Sicherheit – in die Bananenkiste am Fenster. Zurück an den Wagen fischt die hagere Frau mit den kurzen grauen Haaren und der großen Brille ein Netz mit Mandarinen aus der Obstkiste. In der anderen Hand hält sie ihr Arbeitswerkzeug – ein Messer zum Aufschneiden der Netze und ein Tuch zum Abwischen der Ware.

Seit 2009 packt Meti Schiller bei der Osterholzer Tafel an.
Wer rastet, der rostet – Meti Schiller geht jeden Morgen 10.000 Schritte
Meti Schiller ist immer überpünktlich. Sie läuft die zweieinhalb Kilometer von ihrem Zuhause im Stadtteil Osterholz in die Innenstadt zu Fuß. Auch an den anderen Tagen der Woche wandert die aktive Rentnerin mit ihren Nordic-Walking-Stöcken durch Osterholz-Scharmbeck. Sie sei süchtig nach dem Gehen, sagt sie. Dienstags und freitags hält sie sich mit Wassergymnastik fit. Unterwegs trifft sie manchmal bekannte Menschen, in den vergangenen Jahren blickt sie allerdings vermehrt in neue Gesichter. Befremdlich findet sie, dass sich die Menschen auf der Straße heutzutage nicht mehr grüßen.
"Kannst du mir mal eine Kiste geben?", fragt die 88-Jährige Alexander Horn, den sie Alex nennt. Bei der Tafel duzen sich alle, erklärt sie. Horn koordiniert zusammen mit seiner Tante Ramona Kastner die Abläufe der Osterholzer Tafel. Früher hat er mit Meti Schiller Lebensmittel sortiert. Schiller arbeite sehr gewissenhaft und achte darauf, dass das Obst schön ordentlich in die Kisten gelegt werde, sagt Horn. Er findet es toll, dass sie so viel Freude an ihrer Arbeit und dazu immer ein Lächeln im Gesicht hat. "Wir freuen uns, dass wir Meti noch haben."

Die Renterin hält sich mit Walking und Wassergymnastik fit. Auch die Hausarbeit erledigt sie noch selbst.
Meti Schiller ist das einzige der sechs Kinder des Ehepaares Börsch, das noch lebt. Als sie sieben Jahre alt ist, muss sie mit ihrer Mutter, dem Opa und den Geschwistern aus Litauen fliehen, erzählt sie. Die Mutter überlebt die Flucht nicht. Auch ihr Vater verliert sein Leben im Krieg. Er wird im Volkssturm eingezogen, fällt wenig später in Berlin. Zwei ihrer fünf Geschwister sterben bereits im Kindesalter.
Schiller schwärmt von ihren Eltern. Einen lieben Vater habe sie gehabt und eine tolle Mutter. Der frühe Tod der beiden und die traumatisierende Fluchterfahrung gehen ihr immer noch sehr nah. Sie sagt, das erste Mal habe sie erst im Alter von 60 Jahren über diese Zeit sprechen können.
Ihren Mann lernt sie beim Heimattreffen der Litauer in Bremen kennen
Kurze Zeit später rollt Alexander Horn die gesuchte Mülltonne ins Zimmer. Der gammelige Geruch, der von ihr ausgeht, stört hier niemanden. Frau Schiller sortiert nur Obst. Nicht weil sie sich der Sortierung anderer Lebensmittel verweigern würde, sondern weil das hier eben so ist. Früher war Schiller, die damals noch Börsch hieß, in Bremen Schlachtereiverkäuferin. Dann lernt sie beim litauischen Heimattreffen Eduard Schiller kennen und heiratet.
Das Paar zieht nach Osterholz-Scharmbeck, bekommt drei Kinder. Geplant war zunächst nur ein Kind – Rita, die heute als Künstlerin in Wien lebt. Die Schillers bekommen noch zwei Söhne, Bernd und Christian, und sind sehr glücklich darüber. Zu allen Kindern hat die Rentnerin ein gutes Verhältnis. Alle drei haben sich zu ihrem Geburtstag angekündigt. Ihr Mann ist im Mai 2020 nach einem Schlaganfall verstorben, nur zwei Monate vor ihrem 60. Hochzeitstag. Wenn sie von ihrem "Edu" spricht, werden Meti Schillers Augen feucht. "Er fehlt mir. Es war nicht alles Sonnenschein, aber ich hätte keinen anderen haben wollen." Und auch ihr "Edu" habe sie schließlich nicht ausgetauscht.

Das Team der Tafel ist international: Heute arbeitet Schiller mit ihrer Kollegin Fazile Demirtaş aus der Türkei.
Dass Meti Schiller bei der Tafel anfing, verdankt sie ihrer Freundin Liselotte "Lilo" Weitbrecht. Sie ist drei Monate jünger als Schiller und ebenfalls von Anfang an dabei. Jeden Donnerstag gibt sie das Brot aus, während Meti Schiller mit ihrem Spaziergang die Fußgängerzone belebt, wie sie mit einem verschmitzten Lächeln zu sagen pflegt. Danach macht sie einen Abstecher zur Tafel und holt sich eine Umarmung von Kollegin Ramona. Die Teammitglieder, mit denen Schiller die Lebensmittel sortiert, wechseln gelegentlich. An diesem Tag arbeitet sie mit der 38-jährigen Fazile Demirtaş, die vor fünf Jahren aus Istanbul in die Kreisstadt kam.
Zu ihrem Ehrenamt muss sich die Rentnerin nicht zwingen, sie kommt gern hierher. Kein Bock – das gibt es bei ihr nicht. "Alle sind nett zu mir, und ich kann mal ein büschen sabbeln. Wenn man alleine ist, dann ist das schön."

Meti Schiller (Dritte von links) hat viel Spaß bei der Arbeit. Das Team der Osterholzer Tafel versorgt wöchentlich 400 bis 500 einkommensschwache Menschen mit Lebensmitteln.
"Normalerweise schaffe ich mehr", sagt Schiller an diesem Vormittag. Ihr Alter ist für sie zwar kein Hindernis, doch es gibt Sachen, die sie nicht mehr machen kann. Fahrrad fahren beispielsweise. Auch bestimmte Hausarbeiten dauern länger. Nach knapp zwei Stunden Arbeit bei der Tafel ist die Mülltonne dennoch ein ganzes Stück voller geworden.