Landkreis Osterholz. Niedersachsens Gesundheitsministerin Carola Reimann (SPD) hat eine konzertierte Aktion gegen den Fachkräftemangel in der Pflege gefordert. Auf einer Regionaltagung des Amtes für regionale Landesentwicklung erklärte Reimann, das Ziel der Großen Koalition in Berlin müsse nun dringend umgesetzt werden. Es fehlten Tausende von Pflegekräften in den Altenheimen und Krankenhäusern, da müssten alle an einen Tisch: Kassen und Kammern, Bund, Länder und Gemeinden, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. „Die Verantwortlichkeiten sind eng verzahnt, da müssen alle einen Beitrag leisten.“
Zur zweiten Tagung dieser Art hatte die Lüneburger Landesbehörde nach Ritterhude eingeladen. Rund 90 Vertreter der Pflegebranche befassten sich im Hamme-Forum mit der Frage, wie sich Pflegepersonal gewinnen und binden lässt, sodass die Beschäftigten lange und gern in den Einrichtungen arbeiten, ohne selbst darüber krank zu werden. In ihrem Impulsvortrag hatte die Pflegewissenschaftlerin Martina Hasseler ein schonungsloses Bild in den Heimen und Krankenhäusern gezeichnet.
„Es ist fünf vor zwölf“, so die gelernte Krankenschwester. Deutschland habe im internationalen Vergleich einen Personalschlüssel von durchschnittlich 12,7 Patienten pro Pflegekraft vorzuweisen; Norwegen bringe es auf 5,2. Nimmt man nur die Krankenhäuser, so sei dieser Wert von 46,3 im Jahr 2002 auf 59 im Jahr 2011 gestiegen, so die Professorin aus Heidelberg. Selbst vorgegebene Pflegeleistungen wie Zuwendung, Kommunikation und Mobilitätssteigerung würden bisweilen nicht erbracht. Beratung und Prävention seien erforderlich, würden aber gar nicht finanziert.
Am Tag des Kongresses war eine Befragung bekannt geworden, wonach rund 100 ambulante Pflegedienste in Niedersachsen wegen Personalmangels zu Aufnahmestopps und Vertragskündigungen übergegangen seien. Die Anbieter aus der Freien Wohlfahrtspflege wie Diakonie und Caritas hätten von Februar bis April rund 1700 Anfragen abgelehnt und 63 bestehende Pflegeverträge gekündigt. Für Sozialministerin Reimann sind solche Schlagzeilen wichtig, um die Dringlichkeit des Themas zu unterstreichen. Immerhin würden fast drei von vier Pflegebedürftigen zu Hause versorgt.
Studie zur ambulanten Versorgung
Allerdings gehe aus der Umfrage nicht hervor, wie viele Menschen tatsächlich unversorgt geblieben seien. Reimann sagte, sie wünsche sich dazu eine Studie, denn zu einem besseren Image der Pflegeberufe trage die Stichprobe nicht bei. Aus Sicht der Beschäftigten gehe es um Wertschätzung, Bezahlung und Vereinbarkeit mit der Familie. Für die Arbeitgeber wiederum sei vor zwei Jahren ein Landesgesetz zur Stärkung der ambulanten Pflege im ländlichen Raum aufgelegt worden. Das Förderprogramm für bessere Arbeitsbedingungen ist mit jährlich 6,2 Millionen Euro dotiert und hat bisher über mehr als 300 Projekte ermöglicht.
Bei den stationären Pflegeeinrichtungen wiederum erhofft sich die Ministerin einen besseren Personalschlüssel und einheitliche Standards vom neuen Landesrahmenvertrag. Die Vereinbarung, an der 19 Vertreter der Kostenträger und Leistungserbringer beteiligt sind, liegt zurzeit bei der Schiedsstelle. „Ich gehe davon aus, dass der Plan am 1. Januar 2019 wirksam wird.“ Weiteren Nachholbedarf habe Niedersachsen bei den im Bundesvergleich niedrigen Pflegesätzen. Eine Novelle des Pflegegesetzes sei derweil in Arbeit und werde auch Investitionsbeihilfen regeln. Neue Anreize für mehr betriebliche Gesundheitsförderung in den Kliniken und Heimen soll es ebenfalls geben.
Positiv sei der Anstieg der Pflegeschüler, so die Ministerin. Seit Wegfall des Schulgelds sei die Zahl der Ausbildungsplätze von 6582 im Jahr 2012 auf 7269 im vergangenen Jahr gestiegen. Auch die umstrittene Gründung der Pflegekammer werde zur gesellschaftlichen und politischen Aufwertung der Pflegeberufe führen. Die Kammer werde ein Forum für Fachlichkeit und Tarifverbindlichkeit bieten. „Es braucht diese starke Stimme“, betonte Reimann.
Monika Scherf, Leiterin des Lüneburger Amtes für regionale Landesentwicklung, sagte, für die rund 70 000 Pflegebedürftigen im Amtsbezirk sowie für die Pflegekräfte könnten auch Kreise und Kommunen etwas tun: von der Infrastruktur für Bildung und Freizeit über den ÖPNV bis hin zu bezahlbarem Wohnraum. „Natürlich üben die Metropolen Hamburg, Bremen und Hannover eine Sogwirkung aus, aber wir haben auch dünn besiedelte Regionen“, mahnte Scherf. Gerade dort seien demografischer Wandel und Fachkräftemangel ebenfalls spürbar.
Die Pflegewissenschaftlerin Hasseler nannte weitere Stellschrauben, wobei an einem besseren Personalschlüssel und höheren Löhnen kein Weg vorbei führe: „Pflege ist ein professioneller Beruf, keine Wohltätigkeit.“ Der Personalmangel führe sonst in einen Teufelskreis aus steigender Fehlerquote und sinkender Motivation. Auch die Einkommensunterschiede zwischen Kranken- und Altenpflege müssten überwunden werden; mit der generalisierten Ausbildung ab 2020 sei man auf dem Weg dorthin. Diese biete auch mehr Chancen für berufliche Veränderung, Weiterqualifizierung, Karriere. Immerhin habe sich auch das Klientel verändert und angeglichen: In den Krankenhäusern steigt der Altersdurchschnitt der Patienten und in den Altenheimen der benötigte Umfang medizinischer Leistungen.
Hinzukommen sollten flexiblere Dienstpläne und Arbeitszeitmodelle sowie mehr Handlungs- und Entscheidungsspielräume für die einzelne Pflegekraft. Mitarbeiterbeteiligung sei Bestandteil eines zeitgemäßen Führungsstils, so Hasseler. Bei Pflegenden und Gepflegten müsse die Hemmschwelle gegenüber dem Thema Robotik abgebaut werden: Digitale Helferlein könnten den Fachkräften einige Arbeit abnehmen, sodass günstigenfalls nicht weniger, sondern mehr menschliche Zuwendung dabei herauskomme. Die Professorin verwies zudem auf die USA und ihren noch ausgeprägteren Pflegenotstand. Dort wird das Personal bereits massiv umworben: mit fünfstelligen Antrittsprämien und Umzugsbeihilfen sowie mit Schul- und Kindergartenplätzen für die Kinder der Fachkräfte.