Der 9. November ist ein echter deutscher Schicksalstag. Novemberrevolution (1918), Reichspogromnacht (1938) und - natürlich - der Mauerfall im Jahr 1989. Passend dazu ist heute Joachim Matthes zu Gast in Weyhe. Der gebürtige Magdeburger saß von 1967 bis 1969 in den Zuchthäusern Bautzen und Berlin-Rummelsburg in Stasi-Haft. Dem damaligen Studenten der Freien Universität Berlin wurde "Fluchthilfe" vorgeworfen. Heute ab 19 Uhr berichtet der 69-Jährige auf Einladung der Volkshochschule in Weyhe (VHS) in der KGS Leeste von seinem Schicksal. Die Veranstaltung ist kostenlos. Nils Hartung hat sich im Vorfeld mit Matthes unterhalten.
Herr Matthes, was macht man als allererstes, wenn man fast zwei Jahre im Gefängnis gesessen hat?
Joachim Matthes: Zuerst ging es für mich zurück zu meiner Familie. Meine Mutter und meine Brüder lebten damals in Hamburg. Ich erinnere mich noch sehr gut an unser erstes Frühstück im Garten, das war einfach schön. Wieder zu Hause zu sein, zurück im vertrauten Kreis. Meine Familie hat mich auch während der Zeit im Gefängnis sehr gestützt und mir viele Briefe geschrieben.
Wie lange sind die Nachwirkungen einer solchen Haft noch zu spüren?
Die Träume kommen immer wieder, auch heute noch. Es war lange ein Gefühl von Scham, da ich ja im Gefängnis gesessen hatte. Obwohl ich in Westdeutschland rehabilitiert war und nicht als vorbestraft galt. Ich habe lange aufgehört, darüber zu reden, es lange weggedrückt. Erst nach der Wende habe ich damit angefangen.
Was war der Grund, weshalb Sie sich dann entschieden haben, andere Menschen an Ihrem Schicksal teilhaben zu lassen?
Ich wollte mit anderen Menschen reden, auch, damit es für mich weniger belastend wird. Und ich wollte für mich mehr Klarheit finden. Denn die Erinnerungen sind immer noch da. Zum Beispiel habe ich in diesem Jahr alle Briefe meiner Zeit im Gefängnis abgeschrieben - 85 Seiten voll. Da ist natürlich viel wieder hochgekommen, da war ich wieder voll drin in der Zeit.
Was ist die prägendste Erinnerung, die Sie an Ihre Zeit im Gefängnis haben?
Auf jeden Fall das Geräusch, als sich der Schlüssel drehte. Das ist mir bis heute so präsent. Ich bin auf dem Fußboden herumgekrabbelt, um etwas Lebendiges zu finden, eine Mücke, irgendetwas. Ich war mir sicher, dass ich nie wieder herauskommen werde. Aber der heftigste Moment, das war der Schlüssel, das Eingesperrtsein.
Wird die DDR-Diktatur aus Ihrer Sicht heute verklärt?
Absolut. Es gab ja eine richtige Ostalgie-Welle. In den neuen Bundesländern haben die alten Seilschaften ja auch noch lange nach der Wende funktioniert. Ich habe das damals aus erster Hand mitgekriegt, denn ich bin nach der Wende zurück nach Magdeburg gegangen. Aus meiner Sicht hat die Verklärung viel mit den Umgangsformen mit den Menschen in den neuen Bundesländern zu tun. Dort herrschte nach 1990 viel Arbeitslosigkeit, viel Hoffnungslosigkeit. Viele haben wahrscheinlich einfach versucht, sich auf diese Weise an eine Zeit zu erinnern, in denen es ihnen besser ging. An ihre Kindheit, an ihre Jugend oder an ihr Arbeitsleben.
Haben Sie eigentlich je einen der Gefängniswärter oder Stasi-Schergen nach Ihrer Freilassung wiedergetroffen?
Dazu möchte ich jetzt noch nichts verraten. Das wird aber bei der Veranstaltung heute Abend auf jeden Fall auch ein Thema sein.