Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Ehemalige Verdener Synagoge Ein Stück Verantwortung

Gegen 5.30 Uhr klingelt das Telefon beim diensthabenden Polizeibeamten in der Stadt Verden. Die Anruferin, eine Anwohnerin der Verdener Synagoge am Johanniswall, teilt dem Polizisten mit, dass das jüdische Gotteshaus brennt.
09.11.2015, 00:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Ein Stück Verantwortung
Von Eike Wienbarg

Gegen 5.30 Uhr klingelt das Telefon beim diensthabenden Polizeibeamten in der Stadt Verden. Die Anruferin, eine Anwohnerin der Verdener Synagoge am Johanniswall, teilt dem Polizisten mit, dass das jüdische Gotteshaus brennt.

Unschlüssig was zu tun ist, wartet der Beamte ab, bevor er die Feuerwehr benachrichtigt. Ein wenig vorher hatte er bereits den Anruf eines Unbekannten empfangen, dass sich in den kommenden Stunden Aktionen gegen Synagogen und jüdische Geschäfte ereignen würden. Ein Eingreifen sei nicht erwünscht. Als die Feuerwehrleute schließlich am Brandort eintreffen, kommt der Befehl, das Feuer nicht zu löschen.

So oder so ähnlich müssen sich die Ereignisse in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Verden abgespielt haben, berichtet der Verdener Jürgen Weidemann in einer Broschüre über die Novemberpogrome gegen Juden in Verden. Im ganzen Deutschen Reich fanden ähnliche Ereignisse statt. Menschen wurden ermordet, misshandelt oder verhaftet. Geschäfte, Wohnungen und Synagogen zerstört.

In Verden kam es zu unterschiedlichen Aktionen gegen Menschen jüdischen Glaubens. Die Synagoge brannte bis auf die Grundmauern ab, die Fenster von Geschäften wurden eingeschmissen. „13 jüdische Männer wurden in der Nacht verhaftet und blieben 14 Tage inhaftiert, zurück blieben verängstigte Frauen und Kinder“, berichtet Jürgen Weidemann, der sich viel mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde in Verden befasst hat. Der 9. November ist einer der dunkelsten Tage in der deutschen und Verdener Geschichte.

Die Verdener Synagoge wurde 1858 gebaut. Rund 80 Mitglieder umfasste damals die jüdische Gemeinde in der Stadt, wie Kreisarchäologin Jutta Precht berichtet. Am 31. August folgte die Einweihung. Genutzt wurde der Bau auch als Wohnung und Schulraum, zunächst als allgemeinbildende Schule, ab 1933 als Religionsschule. Im Jahr 1938 lebte der jüdische Lehrer David Grünfeld mit seiner Familie in den Räumlichkeiten der Synagoge. Kurz vor den Novemberpogromen wurden er und seine Angehörigen im Zuge der „Polenaktion“ aus Deutschland ausgewiesen. „Alle polnisch-stämmigen Juden sollten Deutschland verlassen“, erklärt Weidemann.

Nach dem Höhepunkt der jüdischen Gemeinde im Jahr 1885 (109 Mitglieder und damit mehr als ein Prozent der Verdener Stadtbevölkerung) lebten am Vorabend der Novemberpogrome noch 41 Menschen jüdischen Glaubens in Verden. „Viele haben versucht zu emigrieren oder auf ein besseres Leben in der Anonymität der Großstädte gehofft“, weiß Weidemann aus Gesprächen mit Zeitzeugen zu berichten.

Die zurückgebliebenen Menschen mussten mit ansehen, wie ihre Synagoge dem Feuer zum Opfer fiel. „Es war eindeutig Brandstiftung“, sagt Jutta Precht. Als mutmaßliche Täter kämen SA-Männer aus der damaligen Führerschule im Etelser Schloss in Betracht, sagt die Archäologin weiter. Am Anfang wäre der Brand noch zu löschen gewesen, erzählen Jürgen Weidemann und Precht. Erst durch den Befehl, nicht einzugreifen, wurde das Schicksal des Gotteshauses besiegelt. „Die SS, die Gestapo und der damalige Landrat waren vor Ort“, berichtet Jutta Precht.

In einem Prozess um den Brand wurde zwar festgestellt, dass der damalige Leiter der Feuerwehr bewusst das Feuer nicht gelöscht hatte, freigesprochen wurde er aber, weil er von der Gestapo und dem Landrat dazu gezwungen worden war, sagt Weidemann. Auch an anderen Orten in Verden wurden Geschäfte von jüdischen Bürgern zerstört. Vier Geschäfte befanden sich an der Großen Straße. Häufig verdienten die jüdischen Menschen ihren Lebensunterhalt als Textilhändler. Schon seit den Anfangszeiten des Nazi-Regimes mussten die Inhaber unter einschneidenden Beeinträchtigungen leiden.

Am Tag nach den Pogromen folgte neben der Zerstörung eine weitere Demütigung der Menschen. „Sie mussten unter dem Gejohle des Nazipöbels aufräumen“, erklärt Jürgen Weidemann. Die Kosten für die Reparatur an den Geschäften mussten die Inhaber tragen, während die Kosten für die „Löscharbeiten“ der Synagoge und deren Abrisskosten der jüdischen Gemeinde in Rechnung gestellt wurde. Nach dem Verlust der Synagoge machte sich die jüdische Gemeinde auf die Suche nach einem neuen Ort für ihre Religionsausübung. In den Räumen des Textilgeschäfts der Familie Löwenstein an der Großen Straße fanden sie einen Platz für ihre Gebete. In der ersten Etage des Hauses fand im Jahr 1939 auch die letzte jüdische Hochzeit in Verden statt, wie Weidemann sagt.

In Folge der Pogrome wanderten viele nach Kolumbien, Lettland, Palästina, in die USA oder nach Argentinien aus. „Zuerst wurden häufig die Kinder geschickt“, berichtet Jürgen Weidemann, der mit vielen Zeitzeugen gesprochen hat. „Viele haben darunter gelitten, dass sie ihre Eltern nicht rausholen konnten“, sagt der Verdener. Die 22 in Verden verbliebenen jüdischen Bürger wurden vom Nazi-Regime im November 1941 zusammen mit mehr als 20 000 deutschen Juden nach Minsk deportiert. Nur etwa 100 Menschen aus der Gruppe überlebten die Qualen der nationalsozialistischen Vernichtungslager, darunter als einziger Verdener Martin Spanier. Im Jahr 1945 lebten noch zwei Juden in der Stadt. An die Synagoge erinnern noch eine Tafel und ein Stück der Grundmauer, das auf dem Gelände des heutigen Fachmarktzentrums steht.

Ausgrabungen auf dem Gelände hatten 2011 die Grundmauern des alten jüdischen Gotteshauses freigelegt. Sie konnten die Archäologen unter anderem die Mikwe, das rituelle Bad der Synagoge, freilegen. Neben Geschirr und Besteck entdeckten die Forscher auch Teile von Büchern. Diese befinden sich in den Händen von Studierenden der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) in Hildesheim. Dort sollen die Funde analysiert und lesbar gemacht werden. Bei den verbrannten Büchern handle es sich zu großen Teilen um die Literatur, die dort im Gottesdienst verwendet wurde, sagt Jutta Precht. Bürgermeister Lutz Brockmann hatte im Zuge der Funde von einem „Stück Verantwortung“ gesprochen. Precht und Weidemann hoffen, dass die Fundstücke irgendwann in einer Ausstellung in Verden zu sehen sein werden.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)