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Folge der Corona-Pandemie Mehr Menschen greifen zur Flasche

Auf den ersten Blick lesen sich die Zahlen der Diakonie-Suchtberatung gut: Die Zahl der Anfragen ist zurückgegangen. Warum das keine gute Nachricht ist, erklärt Heike Gronewold, Leiterin der Einrichtung.
16.12.2021, 16:30 Uhr
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Von Felix Gutschmidt / guf

Heike Gronewold hat eine dunkle Vorahnung. Die Leiterin der Fachstelle Sucht und Suchtprävention des Diakonischen Werks für den Landkreis Verden befürchtet, dass in der Corona-Pandemie mehr Menschen zur Flasche greifen oder ihre Probleme mit anderen Substanzen zu verdrängen versuchen. "Es gibt eine größere Not", sagt sie. In der Zahl der Anfragen drückt sich das an den beiden Standorten der Fachstelle in Achim und Verden bislang nicht aus. "Wir gehen davon aus, dass das erst nach Corona aufploppt."

508 Menschen haben sich 2020 an die Fachstelle Sucht der Diakonie im Kreis Verden gewendet, wie aus dem jetzt vorgelegten Jahresbericht der Einrichtung hervorgeht. Das sind 32 weniger als 2019. Für 2021 liegen noch keine Zahlen vor. Aber Gronewold vermutet, dass sich die Daten im laufenden Jahr nicht wesentlich verändert haben. Deutlicher ist der Rückgang der Kontakte. 4537 waren es 2020 - rund zehn Prozent weniger als im Vorjahr (5094). In dieser Statistik wertet die Diakonie-Fachstelle sämtliche Beratungen und Betreuungen aus, sodass viele Hilfesuchende mehrfach gezählt werden. 

Auf den ersten Blick widersprechen die Zahlen Gronewolds Einschätzung. Weniger Kontakte bei der Fachstelle könnten auf einen Rückgang des Bedarfs hindeuten. Doch bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus: das Gegenteil ist der Fall. Der Rückgang der Kontakte ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass sich die Therapiegruppen im ersten Lockdown ab Mitte März 2020 für zwölf Wochen nicht treffen durften. Die ausgefallenen Treffen in größerer Runde konnten die Diakonie-Mitarbeiter nur bedingt durch Einzelgespräche am Telefon ausgleichen. Ihnen fehlte schlicht die Zeit dazu.

Für Treffen gilt 3Gplus

Ab Juni konnten die Gruppen wieder zusammenkommen; allerdings zum Teil in reduzierter Besetzung und mit strengen Abstands- und Hygieneregeln. Bis auf Weiteres gilt für alle Treffen in Präsenz die Regel 3Gplus. Grundsätzlich muss jeder Teilnehmer einen aktuellen negativen Corona-Test nachweisen, egal ob geimpft, ungeimpft oder genesen.

Gronewold stützt ihre pessimistische Prognose für die Zahl der Suchtkranken oder -gefährdeten auch auf Bundeszahlen. Seit Beginn der Corona-Pandemie habe ein Drittel der Bevölkerung laut einer Umfrage des Deutschen Ärzteblattes mehr Alkohol konsumiert, erklärt die Leiterin der Fachstelle Sucht und Suchtprävention. Der Verkauf von Wein und klaren Spirituosen sei um mehr als 30 Prozent gestiegen. "Ich gehe davon aus, dass es sich im Landkreis Verden nicht anders verhält", sagt sie.

Alkohol bleibt in der Statistik klar das Suchtmittel Nummer eins. Mehr als 70 Prozent der Menschen, die die Fachstelle 2020 aufsuchten, kamen aus diesem Grund. Illegale Drogen haben mit rund 20 Prozent ebenfalls einen großen Anteil. Alles andere - zum Beispiel Medikamente, Glücksspiel oder Essstörungen - rangiert im niedrigen einstelligen Bereich.

Die Zahlen zu Suchtmitteln von 2020 haben sich im Vergleich zum Vorjahr nicht wesentlich verändert. Mit einer Ausnahme: Die Fachstelle hat im vergangenen Jahr fast doppelt so viele Fälle von exzessiver Mediennutzung gezählt wie 2019. Fast fünf Prozent der Klienten wendeten sich wegen dieses Problems an die Diakonie-Dienststellen im Landkreis. Dass der Medienkonsum während der Pandemie zugenommen hat, ist hinlänglich bekannt. In dem Maße, in dem Regeln zum Schutz vor dem Coronavirus soziale Kontakte und Freizeitangebote einschränkten, gewannen Fernseher, Computer und Handy an Attraktivität. Bei den 12- bis 17-Jährigen sei der Medienkonsum um 75 Prozent gestiegen, sagt Gronewold. Die Angaben stammen aus einer Studie der DAK-Krankenversicherung. Entsprechend groß ist der Beratungsbedarf.

Spannungsfeld Medienkonsum

Gronewold sieht im Bereich Medien "ein großes Spannungsfeld". Einerseits gehört die Digitalisierung zur Lebenswirklichkeit. Moderne Technik kann in der Pandemie eine große Hilfe sein, beruflich im Homeoffice, aber auch privat, um Kontakt zu Freunden und Familien zu halten. "Wir verteufeln das nicht, wir versuchen zu sensibilisieren", sagt Gronewold. Smartphone oder Spielkonsole sind nicht per schlecht. Problematisch wird es aus Sicht von Gronewold, wenn Heranwachsende in Folge ihres Medienkonsums persönliche Entwicklungsschritte verpassen oder virtuelle Erlebnisse sozialen Kontakten vorziehen.

Dass eine Großmutter es nicht versteht, wenn ihre Enkel täglich viele Stunden mit ihrem Handy zugange sind, liegt in der Natur der Sache. Doch die Fachstelle Sucht und Suchtberatung berichtet, dass auch Eltern oft Schwierigkeiten haben, nachzuvollziehen, was ihre Kinder eigentlich im Netz so treiben. Und eine Frage sei in den Beratungsstellen immer wieder gestellt worden, heißt es im Jahresbericht der Fachstelle: "Wie bekomme ich mein Kind vom Bildschirm weg?"

Hilfestellungen soll Sozialarbeiterin Julia Stief von der Diakonie-Fachstelle geben. Der Landkreis finanziert seit Jahresbeginn wöchentlich zehn Stunden Medienberatung. Das Angebot werde gut angenommen, sagt Gronewold. Auch mit dem Zeitfenster komme die Fachstelle bislang gut aus. Perspektivisch sei eine Ausweitung dennoch denkbar. Zunächst einmal ist sie aber froh, dass der Landkreis die Mittel überhaupt zur Verfügung gestellt hat - und zwar unbefristet. "Damit habe ich gar nicht gerechnet."

Zur Sache

Cannabis-Freigabe

Ein Coffeeshop in Achim, Thedinghausen oder Verden? Das ist mittelfristig durchaus denkbar. Die neue Bundesregierung hat sich vorgenommen, den Verkauf von Cannabis zu Genusszwecken in Deutschland zu erlauben. Heike Gronewold, Leiterin der Fachstelle Sucht und Suchtprävention der Diakonie in Achim, glaubt, dass sich für ihre Arbeit durch den legalen Verkauf der Droge nichts ändern würde. Die Zahl der Konsumenten würde sich dadurch nicht ändern, schätzt sie. Denn schon jetzt sei die Droge leicht verfügbar. Aufklärungsbedarf zu den Folgen des Konsums gebe es auch unabhängig von der Frage der Legalisierung. Einen positiven Effekt könnte die Freigabe ihrer Ansicht nach haben: Wenn durch den Verkauf Steuereinnahmen entstehen, könnte auch mehr Geld für Präventionsprogramme zur Verfügung stehen.

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