Wenig Freizeit, viel Training und das stete Gefühl, etwas zu verpassen – wer aufs Sportinternat geht, nimmt manche Entbehrungen in Kauf. Für John Kämna waren es irgendwann so viele, dass er sich fragte: „Was soll das hier?“ Er wollte abends ausgehen, mit Freunden am Badesee abhängen, nicht mehr vom bis ins Kleinste durchgetakteten Tagesablauf eingespannt sein. Und: Er begann die Lust am Radfahren zu verlieren. Dreieinhalb Jahre, nachdem er auf die Lausitzer Sportschule in Cottbus gewechselt war, reichte es ihm: Er kehrte nach Fischerhude ins Elternhaus zurück. In ein Leben, das nicht mehr vorrangig vom Radsport bestimmt war.
Erstmals aufs Rennrad gestiegen war Kämna im Alter von elf Jahren. Besser gesagt, auf Holzblöcke, die ihm sein Vater auf die Pedale geschraubt hatte, damit er diese überhaupt erreichte. Sein Vater war es auch, der Kämna und seinem vier Jahre jüngeren Bruder die Leidenschaft fürs Radfahren mit Zweiradtouren durch den Wald und zur Eisdiele vermittelt hatte. „Er hat uns das von klein auf vorgelebt“, sagt Kämna, der auf Fragen meist erst nach kurzer Bedenkzeit eine leise gesprochene, oft eher knappe Antwort gibt. Ähnlich wie sein Bruder Lennard, der aktuell erstmals bei der Tour de France mitfährt.
Ihre Vereinslaufbahn begannen die Kämna-Brüder bei der Radrenngemeinschaft Bremen (RRG). John Kämna stach schnell mit seinen Leistungen hervor. Erst beim Training, dann bei offiziellen Rennen, später bei Deutschen Meisterschaften. Schließlich riet ihm sein Trainer Siegfried „Siggi“ Schreiber, auf ein Sportinternat zu gehen, sollte er sein Potenzial voll ausschöpfen wollen. Das Ziel, irgendwann einmal Profi zu sein und mit dem Radsport sein Geld zu verdienen, hatte Kämna aber nie: „Ich hatte einfach Spaß am Radfahren, alles weitere hat sich ergeben“, erzählt der heute 26-Jährige.
Zusammen mit seinen Eltern fuhr er im Sommer 2007 im vollgepackten Auto zur Sportschule nach Cottbus, wohin Schreiber ihn vermittelt hatte. Angst vor dem, was nun kam, hatte er nicht, er empfand vor allem Vorfreude. Anfangs habe er oft an Zuhause gedacht, doch er lebte sich schnell ein, fand Freunde. „Die meiste Zeit verbringt man aber ohnehin auf dem Rad.“ Und zwar bis zu fünf Stunden täglich, auch in den Ferien, je nachdem, in welcher Trainingsphase er sich befand. Hinzu kamen die Rennen an den Saisonwochenenden.
Überraschende Rückkehr nach Bremen
Nach der elften Klasse verließ er das Sportinternat. Nicht nur die Trainer in Cottbus seien davon überrascht worden, auch in Bremen hätten manche Bekannte seine Rückkehr verwundert zur Kenntnis genommen. Kämna musste sich oft erklären, einige bedauerten seine Entscheidung. „Ich war schon immer ein Sturkopf und habe immer das gemacht, was ich für richtig hielt“, erzählt er und lächelt. Mit Lennard aber sprach er nicht über seine Motive, weil er ihn nicht demotivieren wollte. Denn während der ältere Bruder aus der Sportschule auszog, zog der jüngere ein und ging den nächsten Schritt in seiner Karriere.
John Kämna hingegen nahm eine Auszeit vom Radsport. Er stieg nur aufs Rad, um zur Sportbetonten Schule Ronzelenstraße zu kommen, die er schon früher besucht hatte – oder um seinen Bruder beim Training zu begleiten. Und er holte das nach, was er verpasst hatte: Statt auf Wettkämpfen, war er am Wochenende mit Kumpels unterwegs; statt stundenlang zu trainieren, spielte er „just for fun“ Fußball im Verein. Er trieb sich auf Partys rum, besuchte Festivals. Später machte er sein Abitur und begann eine Ausbildung zum Elektroniker für Windenergieanlagen.
Irgendwann jedoch juckte es ihn wieder, in die Pedale zu treten. „Und ich wollte wieder fitter werden“, sagt Kämna. Schließlich nahm er sein Rennrad mit zur Montage, die ihn häufig nach Niebüll an der schleswig-holsteinischen Küste führte. Nach und nach steigerte er die Trainingsintensität. Dann beantragte er über seinen alten Verein RRG eine Lizenz, um wieder bei Rennen mitfahren zu können – nach mehr als fünf Jahren Pause. „Damit haben nicht viele gerechnet.“
Bei den ersten Wettkämpfen fuhr er überwiegend nur mit, inzwischen belegt er wieder vordere Plätze und nimmt etwa an Bundesligarennen teil. Für die kommende Saison ist Kämna auf der Suche nach einer Kontinentalmannschaft, einem drittklassigen Profiteam, für das er bei Rundfahrten starten kann. „Motiviert bin ich“, sagt Kämna, was auch ein Verdienst seines Bruders ist.
Brüder halten sich an Lennards Trainingsplan
Denn Lennard Kämna lebt mittlerweile in Bremen, während John eine Haushälfte in Fischerhude bewohnt. Zusammen fahren die beiden durchs Blockland und pushen sich gegenseitig, wobei sie sich an Lennards Trainingspläne halten, wovon auch John profitiere. Auch wenn sich dadurch ihre Rollen umgekehrt hätten: „Früher war ich mal der größere Bruder, das ist nicht mehr so“, sagt der 26-Jährige.
Dank eines Freundes, der bei einem Gewinnspiel zwei VIP-Tickets für die Tour de France gewonnen hatte, war Kämna bei der fünften Etappe in den Vogesen vor Ort. Die Begeisterung und die Menge an Zuschauern überraschten ihn: „Es standen durchgehend Fans an der Strecke, teilweise drei Reihen hintereinander.“ Vor dem Start kämpfte er sich zu den Teambussen durch und sprach kurz mit seinem Bruder über dessen bisheriges Abschneiden. Allgemein beschränkt sich ihr Kontakt während der Tour auf vereinzelte Textnachrichten, in denen sie sich etwa über Streckenprofile austauschen. „Lennard hat eh genug zu tun“, sagt Kämna.
Bei Sunweb, dem Team seines Bruders, fährt mit Nikias Arndt ein zweiter Deutscher mit. Einer, der früher Teamkollege von John Kämna war. Die meisten anderen seiner früheren Weggefährten hätten bereits ihre Karriere beendet. „Wer nicht Profi wird, hört spätestens mit Anfang 20 auf“, sagt Kämna.
Hin und wieder gebe es zwar Momente, in denen er sich fragt, ob er damals, mit 18 Jahren, das Richtige getan habe. Oder ob er nicht hätte doch weitermachen sollen, es durchziehen sollen, so wie sein Bruder. Bereuen tue er seine Entscheidung aber nicht. „Ich hatte definitiv eine coole Zeit ohne Radsport“, sagt er und grinst: „Auch wenn es nicht die produktivste war.“
Erfolgreicher Brüderpaare
Die Kämna-Brüder sind nicht das einzige Geschwisterduo, das im Radsport schnell unterwegs ist. So fährt Peter Sagan, sechsmaliger Gewinner des grünen Trikots für den besten Sprinter der Tour de France, zusammen mit seinem älteren Bruder Juraj für das Team Bora-hansgrohe. Die Luxemburger Andy und Fränk Schleck waren das erste Brüderpaar, das die Frankreich-Rundfahrt gemeinsam auf dem Podest beendete: Andy wurde 2011 Tour-Zweiter, Fränk Dritter. In den 50er- und den 60er-Jahren sorgten die Altig-Brüder Rudi und Willi aus Mannheim für Aufsehen. Rudi, der jüngere der beiden, gewann vier WM-Titel, dreimal auf der Bahn und einmal im Straßenrennen. Willi blieb nur die Rolle des Edelhelfers.